Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
leer ausgehen wollen. In den kommenden Jahren fällt der Ramadan in die Sommermonate, so dass die meisten Türkei-Besucher sich selbst ein Bild von der fünften Jahreszeit machen können.
Die stärkere Präsenz des Islam im türkischen Alltag hat es allerdings bislang nicht vermocht, die Ikonografie des Kemalismus zu verdrängen. Atatürk-Denkmäler, -Büsten und -Porträts finden sich überall im Land in solcher Häufigkeit, dass sie auch ein flüchtiger Besucher kaum übersehen kann. Jedes Schulkind wächst mit Atatürk auf, es gibt einen Feiertag für die Jugend zum Gedenken an den Gründungsvater der Republik, und an seinem Todestag ertönen landesweit die Sirenen, und das gesamte Leben steht für eine Viertelstunde still.
So heftig sich Kemalisten und Islamisten politischbekämpfen, im öffentlichen Erscheinungsbild des Landes herrscht nach wie vor eine weitgehende Koexistenz von Moschee und säkularer Politik. Einige wenige Versuche besonders fanatischer islamistischer Bürgermeister, Atatürk-Statuen in ihrer Gemeinde schleifen zu lassen, scheiterten bislang am öffentlichen Widerstand. Auf der anderen Seite gelingt es kemalistischen Initiativen höchst selten, den Bau einer Moschee zu verhindern. Die Türkei, so wird häufig kolportiert, hat pro Kopf der Bevölkerung eine höhere Moscheedichte als der Iran. Das mag stimmen, zumindest der bloße Augenschein spricht dafür. Gleichzeitig gibt es aber auch, jedenfalls in Europa, kein anderes Land, wo der Personenkult um den Staatsgründer solche Blüten treibt wie in der Türkei. Sein Bild hängt noch im letzten Kramladen und die Beleidigung von Atatürk ist ein Straftatbestand, der streng geahndet wird und übrigens der häufigste Grund dafür ist, dass »YouTube« oder vergleichbare Internet-Foren vorübergehend abgeschaltet werden.
Nichts geht über die Familie
Ein langjähriger Freund von mir hat kürzlich geheiratet. Das war insofern bemerkenswert, als Ahmet B. einer der hartnäckigsten Singles Istanbuls war. »Heiraten, bist du wahnsinnig? Sobald du heiratest, frisst dich die Familie mit Haut und Haaren. Du kannst deine Freiheit vergessen.« Immerhin bis zu seinem 33 . Lebensjahr hat Ahmet durchgehalten. Er wohnte in einem Trendy-Bezirk auf der asiatischen Seite der Stadt, tauchte ständig mit anderen Freundinnen auf und wirkte immun gegen den Hang, vom Ich zum Wir überzugehen. Er schien sein Leben zu genießen. Allerdings gab es ein Problem. Nicht nur seine Freundinnen wurden immer jünger, auch die Freunde, mit denen er Fußball spielte oder sich in der Kneipe traf, waren meistens unter 25 Jahren alt. Alle anderen, mit denen er aufgewachsen war, hatten längst geheiratet, waren Väter und schlugen sich mit anderen Problemen herum. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, um Ahmet war es einsam geworden.
Denn Singles sind in der Türkei noch eine ganz seltene Spezies. Es gibt sie in einigen wenigen Stadtteilen Istanbuls, dort wo zumeist Künstler, Medienleute und Schauspieler wohnen, die sich quasi als Trendsetter bewusst dafür entschieden haben, zumindest eine Zeit lang allein zu leben. Doch das sind große Ausnahmen. Ohne Familie, davon sind wohl 99 Prozent aller Türken und Türkinnen überzeugt, bist du ein hoffnungslos verlorener Mensch. Nicht nur im ökonomischen Sinne befindest du dich jenseits der Solidargemeinschaft, sondern du bist einfach ausgestoßen aus dem Wärmestrom der menschlichen Gemeinschaft. Ohne Familie bist du eigentlich ein Nichts, denn nicht das Individuum, sondern die Familie ist die kleinste autonome Einheit des menschlichen Lebens.
Dabei bedeutet Familie in der Regel nach wie vor Großfamilie, oder wie man in Deutschland heute sagt, Mehrgenerationen-Familie. Auch in den Großstädten wohnen Eltern, Kinder und Enkel wenn nicht mehr unter einem Dach, so doch zumeist in unmittelbarer Nachbarschaft. Schwiegertöchter müssen sich mit den Müttern ihrer Männer arrangieren, sonst haben sie schlechte Karten. In vielen Fällen arbeiten die Männer der Familie auch zusammen in einem kleinen Geschäft, das die Familie betreibt, oder der Vater hat dafür gesorgt, dass die Söhne in dem Betrieb, in dem er beschäftigt ist, auch untergekommen sind. Geht auch noch die Frau außer Haus arbeiten, bleiben die Kinder bei der Großmutter. Kindergärten haben in der Türkei Seltenheitswert und wenn, dann sind häufig auch Kinder von ausländischen Familien dort untergebracht.
Tatsächlich hängt die Idealisierung der Familie aber auch und
Weitere Kostenlose Bücher