Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
den Phasen, wenn gepflückt und getrocknet wird, möglichst viele mit anpacken. In dieser Zeit kommt der Teil der Familie, der ansonsten in der Stadt wohnt, wieder ins Dorf zurück.
Ein Bezirk von Istanbul, in dem sich besonders viele Leute vom Schwarzen Meer angesiedelt haben, ist Kasimpasa am Goldenen Horn. Oft wird die dörfliche Struktur quasi in die Stadt verpflanzt, indem etliche Familien aus einem Dorf sich in dergleichen Mahalle (ein bestimmtes kleineres Gebiet eines Bezirkes) niederlassen und dort ähnlich eng zusammenleben, wie sie es auf dem Dorf auch getan haben. Dieses Muster, das sich in vielen Großstädten im Westen des Landes finden lässt, hat eine gesellschaftliche Schicht von Leuten geschaffen, die nicht mehr Bauern, aber auch noch keine Städter sind. In Istanbul hat man angesichts der massenhaften Migration vom Land in die Randbezirke der Stadt lange darüber diskutiert, ob diese Wanderungsbewegung nicht eher zur Zerstörung des städtischen Milieus führt, statt dass die Menschen vom Dorf urbanisiert würden. Bis heute leben die Bewohner der Vorstädte und die alteingesessenen Städter jedenfalls mehr neben- als miteinander.
Bekanntestes Beispiel für die viele Millionen Menschen umfassende Gruppe der Vorstädter ist die Familie des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan. Die Familie Erdogan stammt aus einem Dorf bei Rize, einer Schwarzmeer-Stadt mitten im Teeanbaugebiet. Allerdings war der Vater von Tayyip Erdogan kein Teepflanzer sondern Fischer, als er nach Istanbul aufbrach und sich in Kasimpasa niederließ. In diesem Milieu ist Erdogan aufgewachsen, in diesem Zwischenstadium von Dorf und Noch-Nicht-Stadt sind sein Denken und seine Werthaltung geprägt worden. In diesen Familien herrscht zumeist eine sehr konservative Einstellung vor. Um nach dem Verlust der vertrauten dörflichen Umgebung nicht vollends die Orientierung zu verlieren, werden die Werte der Vergangenheit besonders hochgehalten. Um in der Metropole nicht unterzugehen, ist die Solidarität in der Großfamilie die einzige Überlebenschance. Die Stellung des Patriarchen ist unantastbar, und jedes Familienmitglied muss zum Lebensunterhalt aller beitragen. Ausbildung und Jobs gibt es häufig nur im Netzwerk der Verwandtschaft oder in den Zusammenhängen des Viertels und Dorfes. Als Erdogan seine Politikkarriere begann, konnte er sich auf dieses Netzwerk verlassen, und das gilt im Prinzip immer noch, auch nachdem er als Ministerpräsident den höchsten Posten des Landes erklommen hat.
Zu den großfamiliären und regionalen Netzen kommt bei den Millionen Vorstadtbewohnern aber meistens noch ein weiterer bestimmender Faktor für ihren Alltag hinzu. Die Vorstädte sind der Humus des politischen Islam in der Türkei. Die Dörfler, die in die Stadt kamen, trafen dort auf den säkularisierten Teil der Gesellschaft, auf die Familien, die nach der kemalistischen Revolution in den 20 er und 30 er Jahren des letzten Jahrhunderts einen westlichen Lebensstil angenommen haben und sowohl materiell als auch in ihrem Denken eine ganz andere Welt repräsentieren als die Einwanderer aus den anatolischen Dörfern. Gegen diese säkularisierte, gut ausgebildete Mittelschicht setzten die armen Vorstädter den Islam. Nicht mehr den bäuerlichen, traditionell eher toleranten anatolischen Islam, sondern den geschärften politischen Islam als Waffe im sozialen Kampf. Der Islam half und hilft den Vorstädtern, ihre Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren, er hilft aber auch ganz konkret, durch materielle Unterstützung von Familien in Not und durch Schulen, die den Kindern der Vorstädter Zugang zu Bildung – natürlich einer islamisch geprägten – verschafften, zu Zeiten, da sie keine Chance hatten, auf die Gymnasien zu kommen, an denen die säkulare Elite ihre Kinder ausbilden ließ.
Familie und Religion
Mit seinen Schulen, Moscheen und Parteien schuf der politische Islam in den Vorstädten Aufstiegschancen für Kinder, die sonst kaum Chancen gehabt hätten. Auch dafür ist Tayyip Erdogan das prominenteste Beispiel. Nach der Grundschule ging er auf eine Imam-Hatip-Predigerschule, die ihn anschließend an eine Wirtschaftsfachschule weiterschickte. Über die Jugendorganisationen der islamischen Partei absolvierte Erdogan gleichzeitig eine klassische Parteikarriere, die ihn schließlich bis an die Parteispitze und ins Amt des Ministerpräsidenten führte. Erdogan ist der Prototyp eines erfolgreichen Kindes einer typischen Vorstadtfamilie und schon
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