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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
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vor allem damit zusammen, dass sie einfach eine Überlebensnotwendigkeit ist. Die Türken haben kein besonderes Familien-Gen, sondern entsprechen mit ihrem engen Familienzusammenhang genau dem Verhalten in anderen Ländern und Kulturen, die sich auf einem ähnlichen Entwicklungsstand befinden.

Die 10000-Dollar-Barriere
    Die Wertschätzung des Familienverbandes, also letztlich die Frage, was zählt mehr: das Kollektiv oder das Individuum, traditionelle oder postmoderne Werte, entscheidet sich weltweit zuallererst am gesamtgesellschaftlichen Wohlstand. Die Scheidegrenze zwischen traditionellen und eher postmateriellen Gesellschaften liegt bei rund 10000 Dollar jährlichem Pro-Kopf-Einkommen.
    Diese Erkenntnis verdanken wir dem amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart, der zusammen mit seinem Team von der Michigan University seit 1970 über den weltweiten Wertewandel forscht. Seit dieser Zeit führte Inglehart in mittlerweile 65 Ländern weltweit standardisierte Umfragen durch, mit denen er die Veränderungen gesellschaftlicher und individueller Werte misst. Dieser sogenannte »World Values Survey«, mit dem amerikanische und internationale Soziologen rund 75 Prozent der Weltbevölkerung erreichen, hat über die Jahre ein ganz klares Ergebnis zu Tage gefördert. Egal in welchem Land, egal welche Religion vorherrscht und egal, wie die ethnische Zusammensetzung ist: In Ländern mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 10000 Dollar zählen andere Werte als in den Ländern, die darunter liegen.
    Postmaterielle Werte wie Gleichberechtigung der Geschlechter, Umweltschutz, die Betonung individueller Rechte, die Akzeptanz sexueller Differenz, vor allem der Homosexualität unter Männern, sind Werte, die sich auf breiter Basis erst in Gesellschaften oberhalb der 10000 -Dollar-Schwelle entwickeln. Sie setzten voraus, dass die Menschen nicht mehr um ihre Existenz kämpfen müssen, dass ein bescheidener Wohlstand als gesichert gilt und die Absicherung in sozialen Notlagen durch die Gesellschaft, also staatliche Institutionen, gewährleistet wird. Diese Situation existiert weltweit; in Westeuropa, Nordamerika, Japan und mit Abstrichen in Australien besteht sie seit ungefähr den 60 er Jahren des letzten Jahrhunderts in einer in der Geschichte erstmalig auftretenden Breite. In all diesen Ländern hat sich das Individuum als eigenständige Einheit unabhängig von der Familie etablieren können, und die Bedeutung der Familie als sozialer Zusammenhalt hat entsprechend abgenommen.
    Was uns in Europa – und speziell in den reichsten Ländern Europas – mittlerweile als selbstverständliche Normalität erscheint, ist für den größten Teil der Weltbevölkerung eine ferne, vage Möglichkeit, die sie hauptsächlich aus dem Fernsehen kennt. Dafür dominieren in allen diesen Gesellschaften die traditionellen Werte von Familie, Religion und Patriarchat. In ganz armen Ländern mehr, in Schwellenländern weniger. Die Türkei ist genau eines dieser Schwellenländer. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 6000 Dollar im Jahr, es ist aber regional stark unterschiedlich. Im armen Osten kommen manche Familien kaum auf 1000 Dollar pro Jahr, in den westlichen Großstädten des Landes gibt es dagegen bereits etliche Familien, die die 10000 -Dollar-Grenze locker überschreiten. Wie groß der Einfluss der ökonomischen Bedingungen für die grundlegenden Einstellungen der Menschen ist, wie sehr also die pure Existenz das Bewusstsein bestimmt, kann man in der Türkei ganz besonders gut studieren.
    Prägungen durch die Dorfarbeit
    Wie in einem gesellschaftlichen Labor lassen sich entsprechend der wirtschaftlichen Verhältnisse die unterschiedlichen Werthaltungen auf der Skala von sehr traditionell bis hin zu postmodern besichtigen. Im armen Osten des Landes, vor allem in den kurdisch besiedelten Provinzen, existieren noch regelrechte Großclans. Diese Clans haben eine herrschende Familie, die in der Regel auch über großen Landbesitz verfügt und auf deren Feldern und Weiden dann die übrigen Familien des Clans arbeiten. In fast feudaler Weise entscheidet hier die Clanführung selbst noch darüber, wer wen innerhalb des Clans heiratet und ob ein Kind, natürlich nur ein Junge, eine weiterführende Schule besucht oder gar studieren darf. Bei Wahlen stimmen die Clans geschlossen ab. Die Parteien buhlen deshalb um die Clanchefs, bieten ihnen oft sogar einen Sitz im Parlament an, um so gleich Tausende Stimmen mit einem

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