Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Schlag einzusammeln.
An diesen halbfeudalistischen Verhältnissen hat auch der fast 20 -jährige Krieg der kurdischen Arbeiterpartei PKK kaum etwas verändert. Als 2001 nach der Verhaftung von PKK -Chef Öcalan das Kriegsrecht in der Region aufgehoben wurde und die Clanchefs begannen, ihre Rechte in ihren Dörfern wieder einzufordern, hatte ich die Gelegenheit, an einer Hochzeit teilzunehmen, die ein Clanchef für seinen Sohn ausrichtete.
Es war schon erstaunlich zu sehen, wie selbstverständlich dort vor Beginn der Feierlichkeiten alle Männer des Dorfes beim Clanchef vorsprachen und ihm ganz traditionell die Hand küssten, als hätte die Zeit seit hundert Jahren stillgestanden. Auch wenn der Clanchef formal keine Gewalt mehr über die Leute hat, sein Wort gilt. Nicht zuletzt deswegen, weil er nach wie vor das Land besitzt, dass von den Bauern bestellt wird. Sein Einfluss endet in der Regel allerdings bei denjenigen ehemaligen Clanmitgliedern, die ihre Dörfer verlassen haben und nun in der Stadt leben. Doch auch dort können die alten Verbindungen noch sehr stark sein. Denn hat der Clanchef es beispielsweise zum Abgeordneten gebracht, wird er sich dafür einsetzen, dass Angehörige seines Clans Jobs im öffentlichen Dienst derjenigen Städte bekommen, die zu seinem Wahlkreis gehören. Auch solche Gefälligkeiten sorgen dafür, dass alte Abhängigkeiten nicht allzu schnell verschwinden und auch von Clanmitgliedern, die in die Stadt abgewandert sind, noch Wohlverhalten gefordert werden kann.
Welche Welten heute in der Türkei aufeinanderprallen können, wird in der Literatur und im Film immer mehr zum Thema. Ein schönes Beispiel ist die Verfilmung eines Buches von Zülfü Livaneli, einem der bekanntesten Musiker und Schriftsteller des Landes. In dem Film »Mutluluk« (Das Glück) von Abdullah Oguz treffen sich unter dramatischen Umständen ein Pärchen aus einem kurdischen Dorf und ein Bohemien aus Istanbul. Der reiche Großbürger flüchtete vor seiner noch reicheren Frau auf seine Yacht am Mittelmeer. Das kurdische Pärchen dagegen flüchtete vor seinen Familien, weil der Junge eigentlich das Mädchen im Namen der Ehre hätte töten sollen, stattdessen aber mit ihr ebenfalls zu einem neuen Leben Richtung Mittelmeer aufbricht. Die beiden landen auf der Yacht des von einer Midlife-Krise erschütterten Istanbulers, der ihnen dabei hilft, vor der schießwütigen Verwandtschaft zu fliehen. Es ist ein Film, der zum einen zeigt, von welchen enormen Gegensätzen das Land geprägt ist, der andererseits aber eine Geschichte von dem erfolgreichen Kontakt zwischen diesen beiden Welten erzählt.
Zwar existiert die ganz archaische tribale Struktur außerhalb der kurdischen Region schon lange nicht mehr, aber auch in den türkischen Dörfern herrschten ein enger Zusammenhalt und eine enorme soziale Kontrolle, auch über die eigene Familie hinaus. Bevor die Mechanisierung in den letzten 15 Jahren in den Dörfern vieles veränderte, war man auf seine Nachbarn angewiesen und musste sich deshalb dem »normalen Verhalten« im Dorf anpassen. Der Jahrhunderte alte Ehrbegriff, der in vielen Familien vom Dorf noch gepflegt wird, auch wenn sie längst in die Stadt abgewandert sind, rührt ja aus dieser Notwendigkeit, sich die Achtung der anderen Dorfbewohner unbedingt erhalten zu müssen.
Die voranschreitende Mechanisierung und die globalisierteVerwertung der agrarischen Produkte, haben dazu geführt, dass die dörfliche Idylle, in der eingespielte Dorfgemeinschaften zunächst den Eigenbedarf und dann noch einen kleinen Gewinn in harmonischer gemeinsamer Arbeit erwirtschafteten, in der Türkei längst vorbei ist. Viele Dörfer existieren nur noch als Zweigstelle der Stadt, wohin der größte Teil der ehemaligen Dorfgemeinschaft längst ausgesiedelt ist. Zusammengehalten werden beide Sphären weiterhin durch die Großfamilie. Da ein kleinerer Teil der Verwandtschaft im Dorf bleibt, haben die anderen dort immer noch einen Fuß in der Tür. Mindestens in den Sommermonaten, wenn die Schulen für drei Monate schließen, gehen viele Familien wieder zurück in ihr Dorf.
Der Aufstieg der Vorstadt-Familien
Es gibt aber auch Gegenden, wo zwischen Stadt und Land ein regelmäßiger Pendelverkehr existiert. Dazu gehört die östliche Schwarzmeerküste, wo in den warmen und feuchten Lagen an den Berghängen des Schwarzen Meeres Tee angebaut wird. Der Teeanbau ist in etlichen Monaten des Jahres nicht sehr arbeitsintensiv, dafür müssen dann in
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