Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
verkehrsberuhigt ist, sind die Straßen, sobald die Schule zu Ende ist, voller spielender Kinder. Während in Deutschland die meisten Kinder ja mittlerweile von ihren Eltern von einer Aktivität zur nächsten gefahren werden, organisieren sich in der Türkei die Kinder ihren Spaß zumeist noch selbst. Fußball auf dem Bolzplatz im Viertel oder Volleyball auf der Straße vor dem Haus sind einfach selbstverständlich, ohne dass die Eltern sich darum kümmern müssen.
Kinder werden in der ohnehin sehr jungen türkischen Gesellschaft als Reichtum wahrgenommen, nicht zuletzt deshalb, weil oft noch der Gedanke eine Rolle spielt, dass Kinder schließlich für die Absicherung im Alter sorgen müssen. Von der Rente, so es überhaupt eine gibt, kann jedenfalls kaum jemand im Ruhestand leben. Nach deutschen Maßstäben werden Kinder in der Türkei generell verwöhnt und verhätschelt. Legendär sind die Situationen, in denen Deutsche darüber staunen, wie Kinder bei befreundeten türkischen Paaren eingemummelt werden, weil es draußen doch noch so kalt sei, obwohl die Sonne scheint und der Frühling längst Einzug gehalten hat. Die fürsorgliche Belagerung der Kinder durch ihre Eltern und da speziell der Mütter ist enorm. Deutsche denken automatisch, so wie diese Kinder verwöhnt werden, können die doch nie selbständig werden, während türkische Eltern bei Deutschen fast immer davon ausgehen, dass die ihre Kinder schlicht und einfach vernachlässigen und es an der notwendigen Sorge fehlen lassen.
Bis die Kinder in die Schule kommen, können die meisten einem Lustprinzip frönen, das nach deutschen Erziehungsregeln unfassbar ist. Türkische Kinder gehen nicht um eine bestimmte Zeit ins Bett, sondern krabbeln so lange in der Wohnung herum, bis sie eben von selbst schlafen wollen. Das fällt besonders an Urlaubsorten auf, wo deutsche und türkische Familien gemischt auftreten. Während die deutschen Kids spätestens um 9 Uhr abends in der Falle liegen, toben ihre türkischen Alterskameraden noch bis spät nachts herum. Ähnlich locker geht es bei den Mahlzeiten zu. Essen gibt es, wenn das Kind Hunger hat und nicht wenn es Zeit fürs Essen ist.
Doch selbstverständlich macht es auch für Kinder einen Unterschied, ob sie im armen Osten oder im reichen Westen des Landes aufwachsen. Wenn im Osten ein armer Bauer acht Kinder hat, was dort eher die Regel als die Ausnahme ist, kann diese Familie nur existieren, wenn die Kinder bereits früh für den Unterhalt mitarbeiten. Kinderarbeit ist in der Türkei ein Phänomen derFamilienbetriebe. Es gibt keine Kinder, die in Fabrikhallen, Bergwerken oder großen Teppichknüpfereien arbeiten, aber Tausende von Kindern schuften schon früh auf dem Hof ihrer Eltern oder in deren Kleingewerbe mit. Ein neueres Phänomen in den Großstädten des Landes sind die Straßenkinder. Speziell in Istanbul gibt es immer mehr Kinder, die auf der Straße leben. Viele von ihnen schnüffeln Patex, eine Billigdroge, die schnell zu schweren Gehirnschädigungen führt. Sie leben meist in Gruppen und klauen sich das Notwendigste zusammen. Diese Kinder sind die Verlierer aus den Vorstädten. Ihre Familien gehören zu denen, die den Zusammenhalt nicht geschafft haben und als Solidargemeinschaft ausgefallen sind. Sie leben im Niemandsland zwischen Familie und staatlicher Fürsorge. Es existieren zwar einige wenige Kinderheime, doch staatliche Institutionen, die sich wirklich um die gestrandeten Kinder kümmern, gibt es kaum. Stattdessen haben engagierte Privatleute in Istanbul einen Verein gegründet, der sich um sie kümmert.
Gesetzlich ist Kinderarbeit verboten und für alle Kinder herrscht Schulpflicht. Ab dem sechsten Lebensjahr müssen alle Kinder mindestens acht Jahre zur Schule gehen. Trotzdem erscheinen im Osten immer noch rund 30 Prozent der Mädchen nicht in der Schule – weil sie im Haushalt gebraucht werden oder weil ihre Eltern der Meinung sind, eine Schule sei für Mädchen überflüssig, da sie mit 15 oder 16 Jahren sowieso heiraten und dann in die Familie ihres Mannes übersiedeln und dort die Hausarbeit übernehmen. In den letzten Jahren gibt es aber verstärkte Anstrengungen, die Analphabetenrate gerade unter Mädchen zu minimieren.
Die Schule
Mit Beginn der Schulzeit ist das süße Leben der meisten Kinder vorbei. Die Schule ist in der Türkei eine ernste Angelegenheit. Das beginnt schon mit den Äußerlichkeiten. Alle Schüler tragen eine Uniform. Die Schulwoche beginnt mit einem
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