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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
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deshalb das Idol von Millionen, die in ihm ein Rollenmodell sehen. Und Erdogan erfüllt auch getreu die Erwartungen aus seinem Milieu. Wenn heute Mitglieder seiner Verwandtschaft, seiner Mahalle und aus seiner Region am Schwarzen Meer zu Posten im Apparat und ihre Firmen zu lukrativen Staatsaufträgen kommen, hat das nach Erdogans Verständnis nichts mit Nepotismus und Korruption zu tun, sondern damit, dass man selbstverständlich für die Seinen da sein muss, sobald man selbst etwas zu verteilen hat. So gesehen ist der heute in der Türkei tobende Kampf zwischen Islam und Kemalismus, zwischen den Frommen und den Säkularen, auch ein Abbild des Kampfes der Vorstadtfamilien gegen die etablierten Familien der Republik.
    Tatsächlich ist die Familie als Institution nicht nur die Zuflucht für die Armen, auch der Reichtum ist in der Türkei immer noch eine Familienangelegenheit. Die großen Unternehmen des Landes sind Firmenholdings. Wie in Deutschland vor dem Krieg die Familien Siemens, Krupp und Borsig die Wirtschaft des Landes bestimmten und auch nach dem Krieg zunächst noch Patriarchen wie Grundig oder Neckermann im bundesdeutschen Kapitalismus eine wichtige Rolle spielten, sind die Koc-Familie, die Sabancis, der Dogan-Clan und die Eczacibasis die Gesichter der ökonomischen Macht. Sie stehen jeden Tag in der Zeitung, sie sind die Vorsitzenden in diversen Verbänden, über die sie auch politisch präsent sind. Wenn sie heiraten, beschäftigt das tagelang die Boulevardpresse, und wenn der Patriarch der Koc-Familie mit seiner Luxusyacht zu einer Weltumseglung aufbricht, sind sämtliche Medien dabei. Zwar sind Teile ihrer Unternehmen an der Börse notiert, doch die Familien behalten zumeist die letzte Kontrolle. Die Zeit der anonymen Kapitalgesellschaften ist in der Türkei noch nicht so recht angebrochen. Der Reichtum dieser Familien ist in den letzten Jahren eher noch stark gestiegen. Die Globalisierung, die stärkere Einbindung dieser großen Unternehmen in den europäischen Markt und die Unterstützung durch die neoliberale Politik der AKP unter Erdogan hat den großen Familienholdings geradezu märchenhafte Gewinne in die Kassen gespült. Allein 2007 wuchs nach einer Studie des Forbes-Magazin die Anzahl der Dollarmilliardäre im Land von 23 auf 36 .
    Im Jahr 2007 schaffte es auch erstmals eine der neuen Reichenfamilien aus dem islamischen Umfeld der AKP unter die ersten Zehn. Die Familie Ülker, die mit Ministerpräsident Erdogan geschäftlich eng verbandelt ist, erreichte mit knapp 3 Milliarden Dollar Besitz den neunten Rang. Aufgrund ihrer Riesengewinne herrscht innerhalb der türkischen Großbourgeoisie derzeit eine heillose Verwirrung. Die islamische AKP unter Erdogan ist gut für ihr Geschäft, deshalb wollen sie, dass die Regierung weitermacht. Gleichzeitig ist die kulturelle Differenz zwischen dem Geldadel und der AKP so unüberbrückbar und die Abneigung gegen die armen Vorstädter, die beginnen, ihnen Konkurrenz zu machen, so groß, dass nach einem Bericht der Financial Times nach den Parlamentswahlen im Juli 2007 die meisten Angehörigen des Geldadels doch die Betonkemalisten von der CHP gewählt haben, eine Partei, die eigentlich ihrem Geschäft schadet und deren Führungspersonal so nationalistisch ist, dass es jedem international agierenden Kapitalisten die Haare zu Berge stehen lässt.
    Kinder als Reichtum der Gesellschaft
    Was türkische Familien über alle Klassen-, Glaubens- und regionalen Unterschiede hinweg gemeinsam haben, ist die unbedingte Fürsorge für ihre Kinder. Das gilt auch für die Gesellschaft insgesamt. Die Türkei ist ein kinderfreundliches Land. Kinder sind überall eine Selbstverständlichkeit, und fast jede Familie hat Kinder. Keine Kinder zu haben, ist eine so große Ausnahme, dass es fast als Makel gilt. Zwar zeigt sich auch in der Türkei der Trend, dass Kinder seltener werden, je wohlhabender und individualisierter die Gesellschaft ist. Doch selbst in den reichen, urbanen Familien der Großstädte sind zwei oder mindestens ein Kind immer noch die Regel.
    Das macht sich überall im Alltag bemerkbar. Wenn man mit Kindern in ein Restaurant geht, wird man nicht schief angeschaut und als potenzieller Störfaktor betrachtet. Meistens werden die Kinder freundlich betätschelt, und es kommt sogar vor, dass die Bedienung sich ihrer annimmt, damit die Eltern in Ruhe essen können. In unserem Viertel, das nur von einer Hauptverkehrsstraße tangiert wird und ansonsten ziemlich

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