Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Fahnenappell auf dem Schulhof und den entsprechenden Ermahnungen für die kommende Woche. Schule ist in der Türkei nach wie vor eine klassische Lehranstalt. Es geht darum, eine bestimmte Menge Lehrstoff zu verarbeiten, und diese Menge ist, verglichen mit dem Pensum deutscher Schüler, meistens sehr groß. Es wird gepaukt, auswendig gelernt und zugehört. Deutsche Konservative wären begeistert über die Disziplin der Schüler und die ungebrochene Autorität der Lehrer. Zudem lernen die Kinder auch, höflich und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Gewalt an der Schule ist in der Türkei nahezu unbekannt.
Letztlich ist die Organisation des Schulbetriebes aber den gesellschaftlichen Bedingungen geschuldet, unter denen Bildung in der Türkei stattfindet. Das Hauptproblem besteht darin, dass es zu viele Schüler beziehungsweise zu wenige Schulen gibt. Dazu gehören zu wenige und zu schlecht bezahlte Lehrer. Lehrer genießen zwar ein hohes Prestige, aber zumindest die Lehrer an den staatlichen Schulen werden so schlecht bezahlt, dass sich viele noch mit einem Zweitjob über Wasser halten müssen. Weil es zu wenige Schulen gibt, sitzen in den meisten Klassen bis zu 40 Kinder, was auch einer der Gründe ist, warum auf Disziplin so großen Wert gelegt wird.
Seit zehn Jahren ist der Mangel an Schulen besonders krass. Damals wurde die allgemeine Schulpflicht von vier auf acht Jahre heraufgesetzt. Dieser sicher notwendige und sinnvolle Schritt wurde jedoch gemacht, ohne gleichzeitig genügend neuen Schulraum zu bauen und genügend neue Lehrer anzustellen. Hintergrund war der erste große Streit mit einer islamistischen Regierung, die 1996 für ein Jahr an die Macht gekommen war. Weil die Regierung die Kinder ermunterte, nach Abschluss des vierten Schuljahres in eine Koranschule zu gehen, anstatt die weiterführenden staatlichen Schulen zu besuchen, setzte damals das säkulare Establishment innerhalb weniger Monate die Schulpflicht von acht Jahren durch.
Als unser Sohn Ende der 90 er Jahre eingeschult wurde, war es deshalb noch so, dass wegen mangelnder Schulräume im Schichtdienst unterrichtet wurde. Von den vier ersten Klassen, die es an der Schule gab, hatten zwei am Vormittag und zwei am Nachmittag Unterricht. Das Ganze wechselte im Wochenrhythmus. Musste er eine Woche bereits um 7 : 30 Uhr da sein, begann die Schule für ihn in der darauffolgenden Woche erst um 13 : 30 Uhr. Bis 2007 hat sich die Situation zwar etwas entspannt, doch generell ist es immer noch so, dass jährlich wesentlich mehr Schüler in das schulpflichtige Alter kommen, als Schulräume und Lehrer zur Verfügung stehen. Die Folge sind weiterhin große Klassen und ein ziemlich einfallsloser Frontalunterricht.
Angesichts der Misere der staatlichen Schulen boomt seit Jahren der Privatschulsektor. Viele Eltern in der Türkei lassen es sich jedes Jahr eine erhebliche Summe (von 5000 Euro an aufwärts) kosten, damit ihre Kinder auf eine gute private Schule gehen können. Selbst viele Familien, die es sich eigentlich gar nicht leisten können, schuften zusätzlich, nur um das Schulgeld zusammenzubekommen. Traditionell gibt es in der Türkei neben den staatlichen Schulen christliche Konfessionsschulen und ausländische Schulen, an denen beispielsweise deutsche und türkische Kinder ihr Abitur machen können. Diese deutschen oder französischen oder amerikanischen oder italienischen Schulen waren einmal gedacht für die Kinder der jeweiligen Nation, die dort analog zu den Schulen ihres Heimatlandes unterrichtet wurden. Mittlerweile sind sie auch Elitegymnasien für türkische Schüler, die sich durch überdurchschnittliche Leistungen dafür qualifizieren können. Diese Schulen waren schon immer schulgeldpflichtig, nur hat die Höhe der Kosten in den letzten 20 Jahren erheblich zugenommen.
Daneben entstehen zunehmend rein kommerzielle privateSchulen, die sich von den staatlichen weniger durch ihr Programm als vielmehr dadurch auszeichnen, dass die Klassen klein sind (unter 20 Kinder), die Lehrer gut bezahlt und gut ausgebildet sind – vor allem bei Fremdsprachen – und die Schulen über eine hervorragende Ausstattung verfügen.
Im Leben eines türkischen Schülers gibt es zwei bedeutende Zäsuren, an denen die gesamte Ausbildung orientiert ist. Die erste kommt am Ende der achten Klasse. Landesweit gehen dann mehr als eine Million Kinder in eine standardisierte externe Prüfung. Die Anzahl der Punkte, die sie dabei bekommen, entscheidet darüber, ob sich
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