Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
das Kind für den Besuch eines Gymnasiums qualifiziert. Je höher die Punktzahl, desto besser die Schule, die sich der Schüler anschließend aussuchen kann. Diese Prüfung ist der erste echte Härtetest im Leben eines normalen türkischen Kindes. Wer es von den rund 1 , 2 Millionen Beteiligten nicht schafft, einen der rund 300000 Plätze auf einem Gymnasium zu erreichen, kann seine Träume vom gesellschaftlichen Aufstieg schon mit 13 oder 14 Jahren begraben, denn danach gibt es kaum noch Einstiegsmöglichkeiten in eine höhere Bildung. Die zweite Zäsur kommt dann nach dem Gymnasium. Die Tortur ist die Gleiche, und am Ende entscheidet das Ergebnis der Prüfung, ob einer der begehrten Studienplätze erreicht werden konnte oder eben nicht.
Diese Prüfungen sind ein Horror für die ganze Familie und zwar schon lange im Voraus. Der Stress beginnt mindestens ein Jahr vor der Prüfung. In der achten Klasse wird das ganze Jahr über praktisch nur noch für die große Prüfung gebüffelt. Das ist aber nicht auf die Schule beschränkt, sondern alle Kinder gehen in diesem Jahr zusätzlich zur sogenannten Dershane, wo am Wochenende und teilweise auch noch während der Woche am Abend anhand der Fragebögen der vorangegangenen Jahre die möglichen Testfragen rauf- und runtergepaukt werden. Das Kind ist sieben Tage die Woche ohne Pause im Einsatz, etliche halten den Stress psychisch oder auch körperlich nicht durch.
Der große Vorteil der privaten Schulen ist, dass sie die Kinder effektiver auf die beiden entscheidenden Prüfungen vorbereiten. Viele Eltern hoffen, dass ihre Kinder, nachdem sie acht Jahre private Grund- und Mittelschule bezahlt haben, in der Prüfung so gut abschneiden, dass die Punktzahl für ein passables staatliches kostenloses Gymnasium ausreicht. In allen Privatschulen hängen deshalb große Tafeln mit den Konterfeis der Kinder, die einen Wechsel an ein gutes Gymnasium geschafft haben. Wer allerdings für sein Kind die Premiumklasse einer der ausländischen Elitegymnasien anstrebt, muss sowohl eine sehr hohe Punktzahl erzielen als auch tief in die Tasche greifen. Das fängt bei fast 10000 Euro an der Deutschen Schule an und hört bei dem begehrtesten amerikanischen College bei 16000 Euro pro Schuljahr auf.
An den Tagen der landesweiten Prüfungen herrscht dann der komplette Ausnahmezustand. Die Kinder müssen zur Absolvierung der Prüfung zu einer anderen, ihnen fremden Schule, oft auch in einen ganz anderen Bezirk. Tage vorher wird diese Schule in Augenschein genommen und der beste Anfahrtsweg einstudiert, damit am großen Tag um 8 : 00 Uhr morgens nichts schiefgeht. Während die Kinder sich dann durch ihre Fragebögen kämpfen, warten hunderte von hochnervösen Eltern vor den Schultoren auf das Ende der Prüfung. In diesen zwei Stunden entscheidet sich der emotionale und finanzielle Einsatz von Jahren.
Fast jeder will an die Universität
Auch wenn es in der deutschen Debatte um die angebliche Bildungsferne türkischer Migranten nicht so scheint, in der Türkei will möglichst jeder Schüler, und zunehmend auch jede Schülerin, an die Universität. Zu Recht gilt das Studium als einzige echte Chance, später einen der begehrten festen, sozialversicherungspflichtigen Jobs mit Aufstiegschancen zu bekommen, auch wenn ein Studium längst keine Job-Garantie darstellt. Der Platz an der Uni ist hart erkämpft. Für die meisten Studenten und Studentinnen ändert sich nach Beginn des Studiums im Vergleich zu ihrer Zeit am Gymnasium relativ wenig. Die meisten wohnen während des Studiums zu Hause. Diejenigen, die in eine andere Stadt umziehen müssen, wohnen zumeist im Studentenheim. Nur ganz selten ziehen mehrere Studenten gemeinsam in eine Wohngemeinschaft, denn erstens findet man dafür schwer eine Wohnung und außerdem wäre es auch zu teuer. Das Studium ähnelt insgesamt stärker der Schule als in Deutschland. Die Vorgaben sind strikt, die Lehrpläne randvoll – großer eigener Spielraum für die Gestaltung des Studiums existiert zumeist nicht. Das führt dazu, dass auch das Studium eher Vermittlung von Wissen ist als das Lernen, wissenschaftlich zu arbeiten und eigene Standpunkte zu formulieren. Es fehlt oft an kritischer Reflexion, dafür ist das Studium kompakt und dauert maximal vier Jahre.
Die Art der Wissensvermittlung kommt eher den Naturwissenschaften entgegen, weshalb Ingenieure oder auch Mediziner im internationalen Vergleich besser mithalten können als Geisteswissenschafter. Das hat aber seinen
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