Türkisches Gambit
unvergleichlich klüger und mächtiger ist. Das ist gesund und natürlich, sonst bliebe der Mensch stets ein Kind. In der gleichen Periode befindet sich derzeit die herangewachsene Menschheit. Später, wenn sie noch erwachsener geworden ist, werden sich zwischen ihr und Gott mit Sicherheit neue Beziehungenherausbilden, gegründet auf Gleichheit und wechselseitiger Achtung. Und irgendwann ist das Kind so sehr erwachsen, daß es den Vater gar nicht mehr braucht.«
»Bravo, d’Hévrais, Sie reden so glatt, wie Sie schreiben«, rief Petja. »Nur leider gibt es keinen Gott, es gibt Materie und elementare Prinzipien des Anstands. Ich rate Ihnen, aus Ihrer Konzeption ein Feuilleton für die ›Revue Parisienne‹ zu machen – ein ausgezeichnetes Thema.«
»Um ein gutes Feuilleton zu schreiben, muß man kein Thema haben«, erklärte der Franzose. »Man muß nur gut schreiben können.«
»Nun übertreiben Sie aber«, sagte MacLaughlin entrüstet. »Ohne Thema würde selbst ein Künstler des Wortes wie Sie nichts Gescheites zustande bringen.«
»Nennen Sie mir irgendeinen Gegenstand, und sei er noch so trivial, und ich schreibe darüber einen Artikel, den meine Zeitung mit Vergnügen druckt.« D’Hévrais streckte die Hand aus. »Wetten wir? Meinen spanischen Sattel gegen Ihr Zeissglas.«
Alle wurden lebhaft.
»Ich setze zweihundert Rubel auf d’Hévrais!« verkündete Sobolew.
»Über ein beliebiges Thema?« fragte der Ire bedächtig. »Irgendeins?«
»Absolut. Und sei es über die Fliege, die auf dem Schnauzbart von Oberst Lucan sitzt.«
Der Rumäne fuhr sich hastig über den Schnauzbart und sagte: »Ich setze dreihundert auf Monsieur MacLaughlin. Aber was für einen Gegenstand nehmen wir?«
»Na, zum Beispiel Ihre alten Stiefel.« MacLaughlin zeigte mit dem Finger auf die staubigen Juchtenstiefel des Franzosen. »Versuchen Sie, so darüber zu schreiben, daß das Pariser Publikum es mit Genuß liest.«
Sobolew hob die Hände.
»Noch wurde nicht eingeschlagen. Ich passe. Alte Stiefel, das geht zu weit.«
Schließlich wurden tausend auf den Iren gesetzt, auf den Franzosen mochte niemand setzen. Warja tat der arme d’Hévrais leid, aber sie hatte kein Geld, Petja auch nicht. Sie trat zu Fandorin, der noch immer in dem Buch mit den türkischen Krakeln blätterte, und flüsterte verärgert: »Warum sagen Sie nichts? Setzen Sie auf ihn. Was macht es Ihnen aus! Sie haben doch bestimmt von Ihrem Satrapen ein paar Silberlinge bekommen! Ich gebe es Ihnen später zurück.«
Fandorin verzog das Gesicht und sagte gelangweilt:
»Hundert Rubel auf Monsieur d’Hévrais.« Und er vertiefte sich wieder in seine Lektüre.
»Also zehn zu eins«, resümierte Lucan. »Meine Herren, der Gewinn ist nicht groß, aber sicher.«
In diesem Moment kam Warjas Bekannter Hauptmann Perepjolkin ins Zelt gestürmt. Er war nicht wiederzuerkennen: nagelneue Montur, Stiefel auf Hochglanz, imposante schwarze Augenbinde (der Bluterguß war wohl noch nicht vergangen), weißer Kopfverband.
»Euer Exzellenz, meine Herren, ich komme eben von Baron Krüdener!« verkündete er würdevoll. »Eine wichtige Mitteilung für die Presse. Notieren Sie – Hauptmann Perepjolkin vom Generalstab, Operationsabteilung. Pe-re-pjolkin. Nikopol wurde im Sturm erobert. Wir haben zwei Paschas und sechstausend Soldaten gefangengenommen! Unsere Verluste sind minimal. Sieg, meine Herren!«
»Verdammt, schon wieder ohne mich!« stöhnte Sobolew und stürmte ohne Abschied davon.
Der Hauptmann blickte dem General etwas verwirrt hinterher, aber schon hatten ihn die Journalisten in die Mittegenommen. Perepjolkin beantwortete ihre Fragen mit sichtlichem Vergnügen und kokettierte dabei mit seiner Kenntnis des Englischen, Französischen und Deutschen.
Warja wunderte sich über das Verhalten Fandorins.
Er warf das Buch auf den Tisch, stieß die Presseleute entschlossen auseinander und fragte halblaut: »E-erlauben Sie, Hauptmann, ist das kein Irrtum? Krüdener hatte doch Befehl, Plewna zu nehmen. Nikopol liegt aber in der entgegengesetzten R-richtung.«
In seiner Stimme war etwas, das den Hauptmann aufhorchen und die Journalisten vergessen ließ.
»Keineswegs, mein Herr. Ich habe das Telegramm vom Stab des Oberbefehlshabers persönlich entgegengenommen, war bei der Dechiffrierung zugegen und habe es dem Herrn Baron persönlich überbracht. Ich erinnere mich genau an den Text: ›An den Chef der Westgruppe Generalleutnant Baron Krüdener. Ich befehle, Nikopol zu nehmen
Weitere Kostenlose Bücher