Türkisches Gambit
Dienst ist Dienst. Warja richtete sich häuslich ein. Die Krankenschwestern hatten sie bei sich aufgenommen, großartige, verständnisvolle Frauen, aber alt, Mitte dreißig, und ein bißchen langweilig. Sie sammelten für Warja das Notwendigste als Ersatz für das Gepäck, das sich der findige Mitko angeeignet hatte – Kleidung, Schuhe, einen Flakon Kölnischwasser (sie hatte herrliches Pariser Parfüm gehabt), Strümpfe, Wäsche, einen Kamm, Haarnadeln, duftende Seife, Puder, Sonnenkrem, Cold Cream, Gesichtsmilch, Kamillenessenz zum Haarewaschen und sonstige nützliche Dinge. Die Kleider waren natürlich scheußlich mit Ausnahme eines einzigen, das war hellblau und hatte einen weißen Spitzenkragen. Warja entfernte die aus der Mode gekommenen Manschetten, und nun sah es ganz nett aus.
Aber am Morgen wurde es ihr langweilig. Die Krankenschwestern waren ins Lazarett gegangen, denn aus der Gegend von Lowetsch waren zwei Verwundete gebracht worden. Warja trank allein Kaffee, dann gab sie ein Telegramm an ihre Eltern auf: erstens, damit die nicht verrückt wurden, und zweitens, damit sie Geld schickten (nur leihweise, die sollten sich ja nicht einbilden, sie, Warja, werde in den Käfig zurückkehren). Sie spazierte durchs Lager, beäugte einen sonderbaren Zug ohne Schienen. Dampfspeiende eiserne Lokomobile mit gewaltigen Rädern schleppten schwere Geschütze und Lastfuhren mit Munition. Das Schauspiel war beeindruckend, ein wahrer Triumph des Fortschritts.
Da sie nichts zu tun hatte, ging sie Fandorin besuchen, der im Stabssektor ein Zelt für sich hatte. Er lag auf seinem Feldbett und schrieb aus einem türkischen Buch irgendwelche Wörter heraus.
»Sind Sie dabei, die Interessen des Staates zu schützen, Herr Polizist?« fragte sie, denn es schien ihr am besten, in spöttisch-lässigem Ton mit dem Agenten zu sprechen.
Fandorin erhob sich und warf einen Militärrock ohne Achselklappen über. In dem offenen Hemdkragen sah Warja ein silbernes Kettchen. Ein Kreuz? Nein, eher ein Medaillon. Da hätte sie gern hineingeschaut. Der Herr Polizeispitzel neigte doch nicht etwa zur Romantik?
Der Titularrat schloß den Kragen und antwortete ernsthaft: »Wenn man in einem Sch-staat lebt, muß man ihn schützen oder man muß ausreisen, sonst kommt es zu Schmarotzertum und Lakaientratsch.«
»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, parierte Warja, die von dem »Lakaientratsch« unangenehm berührt war. »Einen ungerechten Staat kann man zerstören und statt dessen einen anderen aufbauen.«
»L-leider ist ein Staat kein Haus, sondern eher ein Baum. Den baut man nicht auf, er wächst, dem Naturgesetz folgend, von selbst, und das dauert lange. Dazu braucht es keinen Maurer, sondern einen G-gärtner.«
Warja vergaß den spöttisch-lässigen Ton und rief hitzig: »Wir leben in einer so schweren, komplizierten Zeit! Die ehrlichen Menschen ächzen unter der Last von Stumpfsinn und Willkür, und Sie reden von einem Gärtner wie ein alter Mann!«
Fandorin zuckte die Achseln.
»Liebe Warwara Andrejewna, ich k-kann das Gejammer über ›unsere schwere Zeit‹ nicht mehr hören. Die Zeit unter Zar Nikolaus war viel schwerer als die heutige, und damals sind Ihre ›ehrlichen Menschen‹ in Habtacht-Stellung herumgelaufen und haben ihr glückliches Leben gepriesen. Wenn es jetzt möglich ist, über Stumpfsinn und Willkür zu klagen, hat sich die Z-zeit doch sehr gebessert.«
»Sie sind ja … Sie sind einfach ein Throndiener!« zischte Warja, es war die schlimmste Beleidigung, die sie zu vergeben hatte, und als Fandorin nicht mal zuckte, erklärte sie es in für ihn verständlicher Sprache: »Ein treu ergebener Sklave ohne Verstand und Gewissen!«
Sie schoß es heraus – und erschrak über ihre Grobheit, aber Fandorin war kein bißchen verärgert, er holte tief Luft und sagte: »Sie wissen nicht, wie Sie sich zu mir v-verhalten sollen, erstens. Dankbar sein möchten Sie nicht, darum sind Sie böse, zweitens. Vergessen Sie die Dankbarkeit einfach, dann k-kommen wir prima miteinander aus, drittens.«
Diese Herablassung machte Warja noch wütender, zumal der Agent, dieses Fischblut, völlig recht hatte.
Das Zelt, in dem sich die beim Hauptquartier akkreditierten Presseleute zu treffen pflegten, war schon von weitem zu erkennen. Vor dem Eingang hingen an einer langen Schnur Fahnen verschiedener Länder, Wimpel der Zeitungen und Zeitschriften und aus irgendwelchen Gründen rote Hosenträger mit weißen Sternchen.
»Gestern haben
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