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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Leipzig.«
    »Sie sind ein Ungeheuer! Das Schicksal Rußlands entscheidet sich, Tausende Menschen sterben, und er sitzt da und liest ein Buch! Das ist ja geradezu unsittlich!«
    »Aus sicherer Entfernung zusehen, wie Menschen einander u-umbringen, das ist sittlich, was?« In Fandorins Stimme klang – o Wunder – ein menschliches Gefühl: Gereiztheit. »Ergebensten D-dank, das Schauspiel habe ich schon beobachtet und sogar daran teilgenommen. Es hat mir nicht g-gefallen. Da bleibe ich lieber bei meinem Tacitus.« Er steckte die Nase demonstrativ in das Buch.
    Warja sprang auf, stampfte mit dem Fuß und wandte sich dem Ausgang zu, da sagte Fandorin: »Seien Sie dortvorsichtig, ja? Rühren Sie sich nicht von der Beobachtungsstelle. Sonst passiert noch was.«
    Sie blieb stehen und sah Fandorin verwundert an.
    »Sie machen sich Sorgen?«
    »W-wirklich, Warwara Andrejewna, was wollen Sie da? Zuerst wird lange mit Kanonen geschossen, dann stürmen die Soldaten los, Rauchwolken steigen auf, Sie sehen nichts, hören nur, wie die einen ›hurra‹ und die anderen vor Schmerz schreien. Sehr interessant. Ihre und meine Arbeit ist nicht dort, sondern hier, im H-hinterland.«
    »Etappenhocker.« Dieses passende Wort fiel ihr im richtigen Moment ein, und sie ließ den Misanthropen mit seinem Tacitus allein.
    Die Anhöhe, auf der sich die Presseleute und die Militärbeobachter aus den neutralen Ländern niedergelassen hatten, war leicht zu finden, Warja sah schon von der mit Munitionswagen verstopften Straße aus das weiße Tuch, das vom Wind schwach bewegt wurde. Dort hatten sich an die hundert Personen versammelt, wenn nicht mehr. Der Straßenordner, ein vom Schreien heiserer Hauptmann mit roter Armbinde, sorgte dafür, daß die Geschosse an die richtige Stelle der vordersten Linie gelangten. Er lächelte dem hübschen Fräulein mit dem Spitzenhütchen zu und winkte.
    »Dort lang, Mademoiselle. Aber biegen Sie nirgends ab. Auf die weiße Fahne schießt die feindliche Artillerie nicht, doch überall sonst kann schon mal ein Granätchen einschlagen. Wo willst du denn hin, du Dorftrottel? Ich hab doch gesagt, die Vierpfünder zur Sechsten!«
    Warja trieb ihren friedlichen Goldfuchs an, den sie aus dem Pferdestall des Lazaretts entliehen hatte, und ritt auf die weiße Fahne zu, wobei sie neugierig Umschau hielt.
    Das ganze Tal vor der flachen Hügelkette, hinter der dasVorfeld von Plewna begann, war von seltsamen Inselchen gesprenkelt – Infanteriekompanien, die sich im Gras niedergelassen hatten und auf den Angriffsbefehl warteten. Die Soldaten unterhielten sich halblaut, von Zeit zu Zeit erschallte bald da, bald dort ein unnatürlich lautes Gelächter. Die Offiziere standen in kleinen Grüppchen beisammen und rauchten Papirossy. Die heranreitende Amazone Warja wurde von ihnen verwundert und ungläubig beäugt wie ein Wesen aus einer anderen, unwirklichen Welt. Der Anblick des wimmelnden, summenden Tals stimmte Warja ängstlich. Sie sah deutlich über dem staubigen Gras den Todesengel kreisen, der Ausschau hielt und Gesichtern sein unsichtbares Siegel aufdrückte.
    Warja stieß dem Pferd die Ferse in die Flanke, um schneller an diesem grausligen Wartesaal vorbeizukommen.
    Dafür waren an der Beobachtungsstelle alle voll lebhafter Vorfreude. Es herrschte Picknickatmosphäre, auf der Erde waren weiße Tischtücher ausgebreitet, und man speiste mit Appetit.
    »Ich dachte schon, Sie kommen nicht!« begrüßte d’Hévrais sie, der ebenso aufgedreht war wie die anderen. Warja vermerkte, daß er seine berühmten verfärbten Uraltstiefel angezogen hatte.
    »Wir stehen hier seit dem Morgengrauen herum wie die Idioten, und die russischen Offiziere kommen erst gegen Mittag. Herr Kasansaki hat sich vor einer Viertelstunde herbemüht, und von ihm haben wir erfahren, daß der Sturmangriff erst um drei losgeht«, schnatterte der Journalist vergnügt. »Ich sehe, Sie haben die Disposition auch schon vorher gekannt. Das ist nicht schön, Mademoiselle Barbara, Sie hätten mir ja auch einen freundschaftlichen Tip geben können. Ich bin schon um vier aufgestanden, und das ist für mich schlimmer als der Tod.«
    Der Franzose half dem Fräulein aus dem Sattel, bot ihr einen Klappstuhl an und erklärte:
    »Da drüben auf den gegenüberliegenden Höhen sind die befestigten Stellungen der Türken. Sehen Sie die Explosionswolken? Das ist das Zentrum ihrer Stellung. Parallel dazu verläuft die fünfzehn Kilometer lange Linie der russisch-rumänischen

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