Türkisches Gambit
MacLaughlin gehört hatte.
Nach einer längeren Pause wandte sich der Chef der Gendarmerie an Fandorin: »Ihre Schlußfolgerungen, Erast Petrowitsch?«
»Die Schlacht ist v-verloren, zum Haareraufen ist es zu spät, das sind Emotionen, die die Untersuchung behindern«, antwortete der Titularrat sachlich. »Zu tun ist folgendes. Das Territorium zwischen der Beobachtungsstelle der Presseleute und dem Hauptquartier wird in Quadrate eingeteilt. Erstens. Mit dem ersten S-sonnenstrahl wird jedes Quadrat durchkämmt. Zweitens. Falls die Leiche von Surow oder Kasansaki entdeckt wird, nichts berühren und die Erde rundum nicht zertrampeln – drittens. Für alle Fälle nach dem einen wie dem anderen in den Lazaretten unter den Schwerverwundeten suchen – viertens. Einstweilen ist nicht mehr zu t-tun, Lawrenti Arkadjewitsch.«
»Was für Mutmaßungen? Was soll dem Imperator gemeldet werden? Verrat?«
Fandorin seufzte. »Eher Diversion. Aber morgen wissen wir mehr.«
In der Nacht kamen sie nicht zum Schlafen. Es gab viel Arbeit: Die Mitarbeiter der Sonderabteilung teilten das Gebiet auf der Karte in Halbwerstquadrate ein und stellten die Suchtrupps zusammen. Warja klapperte die sechs Hospitäler und Lazarette ab und überprüfte die Offiziere, die in bewußtlosem Zustand eingeliefert worden waren. Sie bekam so Schreckliches zu sehen, daß sie gegen Morgen in eine sonderbare fühllose Benommenheit verfiel, aber sie fand weder Surow noch Kasansaki. Dafür sah sie unter den Verwundeten etliche Bekannte, auch Perepjolkin. Der Hauptmann hatte ebenfalls versucht, durchzubrechen und Hilfe zu holen, aber ein Baschi-Bosuk hatte ihm den Krummsäbel quer übers Schlüsselbein gezogen. Nun lag er im Bett, bleich, unglücklich, und seine braunen Augen blickten fast genauso wehmütig wie am unvergeßlichen Tag ihrer ersten Begegnung. Warja stürzte zu ihm, doch er wandte sich ab und sagte nichts. Weshalb diese Abneigung?
Der erste Sonnenstrahl traf Warja auf der Bank vor der Sonderabteilung. Fandorin hatte sie fast mit Gewalt dorthin gesetzt und ihr befohlen, sich auszuruhen; sie lehnte sich an die Wand und sank in einen trüben, lastenden Halbschlaf. Alle Glieder schmerzten, ihr war schlecht – die Nerven, die schlaflose Nacht, kein Wunder.
Die Suchtrupps waren noch bei Dunkelheit zu ihren Quadraten aufgebrochen. Um viertel acht kam ein Kurier vom 14. Abschnitt angesprengt und lief ins Haus, und sofort kam, im Gehen den Rock zuknöpfend, Fandorin heraus.
»Kommen Sie, Warwara Andrejewna, Surow ist gefunden«, warf er kurz hin.
»Tot?« fragte sie aufschluchzend.
Fandorin gab keine Antwort.
Der Rittmeister lag mit dem Gesicht nach unten, den Kopfzur Seite gedreht. Schon von weitem sah Warja das Silberheft eines kaukasischen Dolchs, der in Surows linkem Schulterblatt steckte. Sie saß ab und erblickte sein Profil: Das verwundert geöffnete Auge schimmerte in schönem Glanz, die von einem Schuß aufgerissene Schläfe zeigte eine schwarze Schmauchspur.
Warja schluchzte wieder tränenlos auf und wandte sich ab.
»Wir haben nichts angerührt, Herr Fandorin, wie befohlen«, meldete der Gendarm, der den Trupp führte. »Er hatte nur noch eine Werst bis zur Befehlsstelle. Hier ist eine Senke, darum hat ihn keiner gesehen. Und der Schuß – es war ja solch ein Geballer … Das Bild ist klar: unerwarteter Dolchstoß in den Rücken. Dann mit der Kugel den Rest gegeben – Schuß aus nächster Nähe.«
»Na ja«, antwortete Fandorin vage und beugte sich über den Leichnam.
Der Offizier senkte die Stimme: »Der Dolch gehört Kasansaki, ich habe ihn gleich erkannt. Er hat ihn mir gezeigt und gesagt, es sei das Geschenk eines georgischen Fürsten.«
Darauf sagte Fandorin: »Großartig.«
Warja wurde noch schlechter, sie kniff die Augen zu, um die Übelkeit zu verscheuchen.
»Was ist mit H-hufspuren?« fragte Fandorin und hockte sich hin.
»Nichts. Sie sehen ja, den Bach entlang lauter Geröll und weiter oben alles zertrampelt – hier müssen gestern die Schwadronen durchgekommen sein.«
Der Titularrat richtete sich auf, stand einen Moment neben dem hingestreckten Körper. Sein Gesicht war ohne Regung und grau – passend zu den Schläfen. Dabei ist er gerade erst zwanzig, dachte Warja und zuckte zusammen.
»Gut, Oberleutnant. B-bringen Sie den Toten ins Lager. Kommen Sie, Warwara Andrejewna.«
Unterwegs fragte sie: »Ist Kasansaki wirklich ein türkischer Agent? Unglaublich! Natürlich ist er widerlich, aber trotzdem
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