Türkisches Gambit
Sie zugeben. Gewiß konnte das auch ein Zufall sein, aber es war verdächtig. Wahrscheinlich haben Sie am Beginn Ihrer journalistischen Tätigkeit noch nicht angenommen, daß die Maske des Korrespondenten Ihnen für Aktionen ganz anderer Art zupaß kommen würde. Ich bin sicher, daß Sie aus völlig harmlosenGründen angefangen haben, für die Pariser Zeitung zu schreiben, nämlich um Ihr überdurchschnittliches literarisches Talent zu nutzen, und zugleich weckten Sie bei den Europäern Interesse an den Problemen des türkischen Imperiums und insbesondere an dem großen Reformer Midhat Pascha. Und Sie haben Ihre Aufgabe nicht schlecht bewältigt. Der Name des weisen Midhat erscheint in Ihren Publikationen mindestens fünfzigmal. Man kann sagen, Sie haben den Pascha zu einer populären und angesehenen Persönlichkeit in ganz Europa und besonders in Frankreich gemacht, wo er sich übrigens derzeit aufhält.«
Warja zuckte zusammen, als sie daran dachte, wie d’Hévrais von seinem heißgeliebten Vater, der in Frankreich lebe, gesprochen hatte. Also hatte Fandorin recht? Entsetzt warf sie einen Blick auf den Korrespondenten. Der wahrte nach außen hin völlige Kaltblütigkeit, doch sein Lächeln kam Warja etwas gequält vor.
»Übrigens glaube ich nicht, daß Sie Midhat Pascha verraten haben«, fuhr der Titularrat fort. »Das ist ein raffiniertes Spiel. Jetzt, nach der Niederlage der Türkei, wird er mit dem Lorbeer des Märtyrers zurückkehren und wieder die Regierung übernehmen. Für Europa ist er die ideale Figur. In Paris wird er einfach auf Händen getragen.« Fandorin berührte mit der Hand die Schläfe, und Warja bemerkte plötzlich, wie blaß und müde er aussah. »Ich habe mich sehr beeilt zurückzukehren, aber die dreihundert Werst von Sofia bis Hermanli haben mich mehr Zeit gekostet als die anderthalb tausend Werst von Paris nach Sofia. Die Straßen im Hinterland spotten jeder Beschreibung. Gottlob sind Misinow und ich noch rechtzeitig angekommen. Als General Strukow mitteilte, Seine Exzellenz seien in Begleitung des Journalisten d’Hévrais nach San Stefano gefahren, begriff ich: Das ist er, dertödliche Zug von Anwar Effendi. Nicht zufällig wurde auch der Telegraphenverkehr unterbrochen. Ich bekam schreckliche Angst, Michail Dmitrijewitsch, daß dieser Mann mit Ihrer Verwegenheit und Ihrem Ehrgeiz spielen und Sie zum Einmarsch in Konstantinopel überreden könnte.«
»Und warum diese Angst, Herr Staatsanwalt?« fragte Sobolew ironisch. »Russische Truppen wären in die türkische Hauptstadt einmarschiert, na und?«
»Na und?« Misinow griff sich ans Herz. »Sie sind ja verrückt! Das hätte das Ende bedeutet!«
»Das Ende für wen?« Sobolew zuckte die Achseln, aber Warja sah Unruhe in seinen Augen.
»Für unsere Armee, für unsere Eroberungen, für Rußland!« sagte der Chef der Gendarmerie drohend. »Unser Botschafter in England, Graf Schuwalow, hat eine chiffrierte Meldung geschickt. Er hat mit eigenen Augen das geheime Memorandum des Kabinetts von Saint James gesehen. Nach einer vertraulichen Absprache zwischen England und Österreich-Ungarn würde, falls nur ein einziger russischer Soldat in Konstantinopel auftaucht, das Geschwader des Admirals Hornby das Feuer eröffnen, und die österreichisch-ungarische Armee würde die serbische und die russische Grenze überschreiten. So ist das, Michail Dmitrijewitsch. In diesem Falle würden wir eine Niederlage erleiden, um vieles schlimmer als im Krimkrieg. Das Land ist nach Plewna erschöpft, wir haben keine Flotte im Schwarzen Meer, und die Staatskasse ist leer. Es wäre eine vollständige Katastrophe.«
Sobolew schwieg niedergeschlagen.
»Aber Euer Exzellenz waren weise und zurückhaltend genug, nicht weiter als bis San Stefano zu gehen«, fuhr Fandorin ehrerbietig fort. »Also hätten Misinow und ich uns nicht so zu beeilen brauchen.«
Warja sah das Gesicht des Weißen Generals puterrot anlaufen. Er räusperte sich, nickte mit wichtiger Miene und betrachtete mit Interesse den Marmorfußboden.
Es mußte wohl sein, daß sich genau in diesem Moment der Leutnant Gukmassow durch die Tür hereindrängte. Mit einem feindseligen Blick auf die blauen Monturen bellte er: »Erlaube mir zu melden, Euer Exzellenz!«
Warja tat der arme Achilles leid, und sie wandte sich ab, doch der tumbe Leutnant fuhr mit ebenso schallender Stimme fort: »Punkt sechs Uhr! Laut Befehl Bataillon angetreten und Gulnora gesattelt! Wir warten nur noch auf Euer Exzellenz, dann
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