Türkisches Gambit
natürlich die Bedeutung dieser Information und den Grund, warum Surow zum Befehlshaber entsandt war. Er mußte Zeit gewinnen und Osman Pascha die Möglichkeit verschaffen, sich umzugruppieren und Sie mit Ihrer kleinen Abteilung aus Plewna hinauszuwerfen, ehe Verstärkungen kämen. Anwar ging wieder das Risiko ein, improvisierte, dreist, virtuos, talentiert. Und wie immer gnadenlos.
Als die Journalisten, die nun von der erfolgreichen Attacke auf der Südflanke wußten, um die Wette zu den Telegraphenapparaten eilten, heftete sich Anwar an die Fersen von Surow und Kasansaki. Auf seinem berühmten Pferd Jatagan holte er sie mühelos ein, und an einer menschenleeren Stelle hat er sie beide erschossen. Im Moment des Überfalls ritt er wohl zwischen Surow und Kasansaki, wobei der Rittmeisterrechts und der Gendarm links von ihm war. Anwar schoß Surow aus nächster Nähe in die linke Schläfe und jagte im nächsten Moment Kasansaki, der auf den Schuß zu ihm hinblickte, eine Kugel in die Stirn. Das alles dauerte nicht länger als eine Sekunde. Ringsum bewegten sich Truppen, aber die drei Reiter waren in ihrer Senke nicht zu sehen, und die Schüsse dürften während der Kanonade kaum aufgefallen sein. Den Leichnam Surows ließ der Mörder liegen, stieß ihm aber den Dolch des Gendarmen ins Schulterblatt. Das heißt, er hat ihn zuerst erschossen und ihm danach den Dolch in die Schulter gestoßen, nicht umgekehrt, wie wir zunächst dachten. Der Sinn ist klar – der Verdacht sollte auf Kasansaki fallen. Aus der gleichen Erwägung zerrte Anwar den toten Kasansaki ins nächste Gebüsch und inszenierte den Selbstmord.«
»Und der Brief?« erinnerte Warja. »Von diesem … Wildkatz?«
»Ein vorzüglicher Schachzug«, gestand Fandorin. »Die türkische Aufklärung dürfte noch aus den Tifliser Zeiten von den widernatürlichen Neigungen Kasansakis gewußt haben. Ich nehme an, daß Anwar Effendi den Oberstleutnant längst im Visier hatte, um ihn möglicherweise in Zukunft erpressen zu können. Doch die Ereignisse entwickelten sich anders, und die nützliche Information wurde genutzt, um uns von der Spur abzubringen. Anwar nahm einfach ein sauberes Blatt Papier und verfaßte in Eile die Karikatur eines homosexuellen Briefes. Dabei trug er zu dick auf, der Brief kam mir schon damals verdächtig vor. Erstens ist schwer zu glauben, daß ein georgischer Fürst ein so scheußliches Russisch schreibt – er muß ja wohl das Gymnasium besucht haben. Und zweitens, Sie werden sich erinnern, daß ich Lawrenti Arkadjewitsch nach dem Kuvert fragte und erfuhr, der Briefhabe ohne Kuvert in der Tasche des Toten gesteckt. Es war unbegreiflich, wie das Blatt Papier solche Frische bewahren konnte, wenn Kasansaki es ein ganzes Jahr bei sich getragen hatte!«
»Schön und gut«, warf Misinow ein, »Sie legen mir Ihre Erwägungen nun schon das zweitemal in den letzten vierundzwanzig Stunden dar, aber ich frage wieder: Warum haben Sie geschwiegen? Warum haben Sie mir Ihre Zweifel nicht früher mitgeteilt?«
»Wer eine Version verwirft, muß eine andere haben, und ich hatte keine andere«, antwortete Fandorin. »Der Opponent war zu raffiniert. Es ist mir peinlich, aber eine Zeitlang hielt ich Herrn Perepjolkin für den Hauptverdächtigen.«
»Jeremej?« fragte Sobolew verblüfft und breitete die Arme aus. »Meine Herren, das ist ja Paranoia.«
Perepjolkin klapperte mit den Augen und öffnete nervös den straffen Kragen.
»Ja, es war dumm«, stimmte Fandorin zu. »Aber der Herr Perepjolkin ist uns dauernd vor den Füßen herumgelaufen. Alles war ziemlich verdächtig: seine Gefangenschaft und die wundersame Befreiung, dann der Fehlschuß aus nächster Nähe. Die Baschi-Bosuks schießen gewöhnlich besser. Dann die Geschichte mit dem chiffrierten Telegramm – den Befehl an General Krüdener, Nikopol einzunehmen, überbrachte Herr Perepjolkin. Und wer stiftete den vertrauensseligen Journalisten d’Hévrais an, sich zu den Türken nach Plewna durchzuschlagen? Und der geheimnisvolle Buchstabe J? Der leichtsinnige Surow redete ja Perepjolkin mit ›Jerome‹ an. Das ist die eine Seite. Auf der anderen war die Tarnung Anwar Effendis ideal, das müssen Sie zugeben. Ich konnte noch so viele logische Berechnungen anstellen, wenn ich dann Charles d’Hévrais ansah, zerfielen alle Argumente zu Staub.Sehen Sie sich den Mann an.« Fandorin zeigte auf den Journalisten, alle Augen richteten sich auf d’Hévrais, und er verbeugte sich mit übertriebener
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