Türkisches Gambit
Schipkapaß, den Schlüssel zum Großen Balkangebirge, erobert. Eigentlich hatten wir den Krieg schon gewonnen. Doch wie ging es weiter? Infolge eines verhängnisvollen Chiffrierfehlers besetzte unsere Armee das ganz unnötige Nikopol, derweil zog Osman Pascha ungehindert in Plewna ein und brachte unsern Angriff zum Stehen. Erinnern wir uns an die Umstände der rätselhaften Geschichte. Der Chiffrierer Jablokow machte den schwerwiegenden Fehler, die Geheimdepesche auf dem Tisch liegenzulassen. Warum tat er das? Weil er erschüttert war von der Nachricht, daß seine Braut, Frau Suworowa, überraschend eingetroffen sei.«
Alle blickten Warja an. Sie kam sich vor wie eine Art Beweisstück.
»Und wer informierte Jablokow über die Ankunft seiner Braut? Der Journalist d’Hévrais. Als der vor Freude durchgedrehte Chiffrierer davonstürmte, genügte es, die Depesche umzuschreiben und ›Plewna‹ durch ›Nikopol‹ zu ersetzen. Unser Armeecode ist, milde gesagt, nicht kompliziert. Von dem bevorstehenden Manöver der russischen Armee wußte d’Hévrais, denn in seiner Gegenwart erzählte ich Ihnen, Michail Dmitrijewisch, von Osman Pascha. Erinnern Sie sich an unsere erste Begegnung?«
Sobolew nickte mürrisch.
»Erinnern wir uns ferner an die Geschichte mit dem mysteriösen Ali Bei, den d’Hévrais angeblich interviewte. Dieses ›Interview‹ hat uns zweitausend Gefallene gekostet, und die russische Armee saß jetzt lange Zeit bei Plewna fest. Ein riskanter Trick, denn Anwar zog unweigerlich den Verdacht auf sich, aber er hatte keine Wahl. Die Russen konnten ja auch eine Sperre gegen Osman zurücklassen und die Hauptkräfte weiter nach Süden führen. Doch die Zerschlagung desersten Sturmangriffs weckte bei unserer Führung übertriebene Vorstellungen von der Gefährlichkeit der Stadt Plewna, und die Armee entfaltete gegen das bulgarische Städtchen ihre gesamte Macht.«
»Moment mal, Erast Petrowitsch, aber Ali Bei hat doch wirklich existiert!« warf Warja ein. »Unsere Späher haben ihn in Plewna gesehen!«
»Darauf kommen wir noch zurück. Jetzt wollen wir uns an den zweiten Sturmangriff auf Plewna erinnern, dessen Scheitern wir auf den Verrat des rumänischen Obersts Lucan geschoben haben, der den Türken unsere Disposition preisgab. Sie hatten recht, Lawrenti Arkadjewitsch, das J aus dem Notizbuch Lucans stand für ›Journalist‹, aber gemeint war nicht MacLaughlin, sondern d’Hévrais. Er konnte den rumänischen Fant ohne Schwierigkeiten anwerben, denn die Spielschulden und die unmäßigen Ambitionen machten den Oberst zu einer leichten Beute. In Bukarest benutzte d’Hévrais geschickt Madame Suworowa, um sich des Agenten zu entledigen, der seinen Wert verloren hatte und zu einer Gefahr geworden war. Außerdem nehme ich an, daß Anwar das Bedürfnis hatte, sich mit Osman Pascha zu treffen. Die Ausweisung aus Rumänien, die nur zeitweilig war und die von vornherein geplante Rehabilitierung einschloß, bot ihm diese Möglichkeit. Der französische Korrespondent war einen Monat abwesend. Genau in dieser Zeit berichtete unsere Aufklärung von Ali Bei, dem geheimnisvollen Berater des türkischen Befehlshabers. Dieser Ali Bei zeige sich absichtlich auf belebten Plätzen mit seinem auffälligen Vollbart. Sie müssen sich köstlich amüsiert haben über uns, Herr Spion.«
D’Hévrais gab keine Antwort. Er sah den Titularrat aufmerksam und, wie es schien, erwartungsvoll an.
»Das Erscheinen Ali Beis in Plewna war notwendiggeworden, um den Journalisten d’Hévrais nach dem unglückseligen Interview von jedem Verdacht zu befreien. Im übrigen zweifle ich nicht, daß Anwar diesen Monat mit großem Nutzen verbrachte: Gewiß hat er mit Osman Pascha gemeinsame Aktionen für die Zukunft besprochen und sich zuverlässige Verbindungen geschaffen. Unsere Spionageabwehr hat schließlich die Korrespondenten nicht daran gehindert, in der belagerten Stadt eigene Informanten zu haben. Wenn Anwar wollte, konnte er sogar für ein paar Tage nach Konstantinopel fahren, denn Plewna war noch nicht von den Verkehrswegen abgeschnitten.
Der dritte Sturmangriff war für Osman Pascha besonders gefährlich, vor allem durch Ihre unerwartete Attacke, Michail Dmitrijewitsch. Doch Anwar hatte Glück, wir nicht. Ein verhängnisvoller Zufall brachte uns in die Klemme – auf dem Weg ins Hauptquartier sprengte Ihr Adjutant Surow an den Korrespondenten vorbei und schrie ihnen zu, daß Sie in Plewna eingedrungen seien. Anwar begriff
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