Tuermer - Roman
der nicht richtig ist. Manchmal aber sang Vater auch in scheinbarer Eintracht mit dem Carillon. Da dessen Arabesken ihm fremd waren, trieben die Melodien schon nach wenigen Takten auseinander und wurden nur gewaltsam durch den getragenen und wehleidigen Tonfall, in dem Vater den Text in die Breite zog, zusammengehalten:
Nun bin ich manche Stunde entfernt von jenem Ort
.
Während ich das dachte, öffnete sich die Tür zur Küche und Mutters Kopf kam zum Vorschein. Jan, sagte sie vorsichtig, ihre warme Stimme blieb als kleiner Rauch kurz in der Luft stehen. Vater ruft dich. Ja, ich komme. Ich ging zu ihm in die Stube. In der Tür blieb ich stehen. Zögerte, weil er abgewandt am Fenster stand. Na komm rein, sagte er über die Schulter. Dann doch Schweigen, bis er nach einer Weile fragte: Ist dir kalt? Trotz des Paletots fühlte ich mich steif vor Kälte, und das war erst der November. Diesmal verstand ich gleich, was er wollte. Er wußte, daß wir alle froren. Nein, sagte ich, noch nicht so sehr. Er schien erleichtert. Ich denke auch, es hat mit dem Brief noch Zeit, sagte er. Wenn, er zögerte, es dir zu kalt wird, der Brief liegt hier im Buch. Er zeigte auf den
Obstbaumschnitt
. Du kannst das deiner Mutter sagen. Gut. Aber ich beschloß, es ihr nicht gleich zu sagen. Mutter hatte schon etwas wie eine Eisschicht um sich. Ich lächelte, als ich durch die Küche ging, damit sie glauben konnte, es würde nun besser werden, und ging die Treppe zum Dachboden hinunter.
Auf dem Dachboden war Sommer. Zwar zog der Wind überall durch, aber der Staub über den Balken flirrte golden, daß es aussah wie Sommer. Und Echo in ihrem leichten Kleid mußte hier sein. Ich wollte warten auf sie, weil ich sehen wollte, ob sich ihr Atem in der Luft niederschlug.
Ich setzte mich mit angezogenen Knien auf die Planken. Ich lauschte. Es war sehr kalter Sommer. Ich konnte nicht lange warten, mußte mich bewegen. Und sie würde nicht kommen, das wußte ich jetzt auch. Sie würde vielleicht gar nicht kommen, solange es kalt war. Sie war ja frei. Ungeschickt klangen meine Schritte auf den Planken. Ich wunderte mich, daß Bewegung noch möglich war. Die Wellen hatten sich verkantet, und der Wind brachte uns nicht vorwärts, er zerriß bloß die Segel, die nicht rechtzeitig eingeholt worden waren. Man konnte nur warten.
Wegziehen
Es ist das Ende des Jahres, wenn der Himmel am schönsten ist. In der Dämmerung kommen zuerst die Krähen. Sie kreisen in immer enger werdenden Radien um den Turm. Sie lassen sich auf dem First nieder und picken in den schmalen Rand zwischen grünem Kupferblech und Schiefer. Dünne Moose wachsen da, mit kleinen Insekten darin. Ihr Krächzen klingt wie der Auftakt für die Formationen anderer Vögel, die später am Abend um die Kirche kreisen werden oder weiter oben über uns hinwegziehen. Ringeltauben mit dumpfem Gurren und gesellige Drosseln sammeln sich im Geäst, auf den Drähten. Mehr von ihnen an jedem Tag. Und eines Morgens, wenn ich aufwache, sind sie fortgezogen. Dann aber kommen Graugänse mit ihrer fremden, fernen Sprache und dem Sichelgeräusch ihrer Flügelschläge. Ihr Pfeil zeigt nach Süden. Süden, das ist Martinsrieth, Rothenschirmbach, Hardesleben, der Schwarze Forst, der Rißgraben, dann die Thüringer Pforte, die sich der Fluß geöffnet hat und dann hügeliges Land, vulkanischer Basalt.
Schwärme von Rauchschwalben ziehen in lockerer Formation und weben ein immer neues Muster vor den Himmel. Wenn man die Augen zusammenkneift, entstehen Gesichter, die keinen Umriß haben und im Moment, da sie erkannt werden, sich schon wieder auflösen und neu zusammensetzen. Nase, Mund, Augen und Brauen sind die bedrohliche Verdichtung von sich schnell bewegenden schwarzen Körpern. Ich denke an das Orgelspiel unten im Kirchenschiff, an mein Lauschen auf den Gewölbekappen und das Gefühl von Wind, der meine Züge ausstreicht wie Dünensand und neu zusammenweht. Mein sandiges Gesicht, über das zuckend die geschwungenen Linien meiner Brauen wandern. Wie Getreidefelder, in die der Wind hineinfährt, die Grannen in diese und die andere Richtung kämmt, Wirbel in die schwingenden Halme drückt, mein rauschendes Gesicht. Ein windiger Sommertag, über dessen Himmel die Wolken schnell ziehen und ihre Schatten als Gebärden auf die Landschaft prägen, mein wechselvolles Gesicht mit verwischten Zügen, neuen Konturen. Auf Grund liege ich und sehe still die Wellen anwachsen und umbrechen. Auf Grund schreiten langsam und
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