Tuermer - Roman
oder zu vertrocknen. Wie ein Papier in einem Wirbel dicht über dem Boden zu drehn und noch einmal hochgerissen werden von einer Gegenströmung. In dem geduldigen Netz einer Spinne hängenbleiben und sich müde zappeln. Und dann, wenn die Kraft nachgelassen hat, das langsame achttaktige Tappen der Spinne zu hören. Zu wissen, daß die Vibrationen des Netzes nur mir gelten. Und mich noch ein bißchen leichter machen, an das Rascheln der leeren Chininpanzer der toten Asseln denken, an das Rascheln steifer Seide von Frauenkleidern. Und wenn dann die Spinne so nah wäre, daß man ganz ehrlich sein könnte mit sich: das dröhnende Zersplittern von Schneckenhäusern, das Gefühl, etwas Formloses zu zertreten. Jedes Wetter führt ein Heer von Erinnerungen mit sich, die stärksten sind die an nie Geschehenes.
Geräusche
Im Strahl, der mein Gesicht trifft, wirbelt bunt der Staub. Wenn ich näher herankrieche, bäuchlings im Staub auf den Planken, kann ich durch den kleinen Dreischneuß auf die Stadt hinuntersehen. Ich weiß, was auf den, der da unten läuft, hinter der nächsten Ecke wartet. Ich sehe die Begegnungen und sehe, wie den Begegnungen ausgewichen wird. Wie einer erschrickt und kurz verharrt, dann eine andere Richtung einschlägt und nach Umwegen wieder seine ursprüngliche Richtung verfolgt. Ich sehe ihre Wege einander kreuzen und einen Menschen sich umdrehen nach dem andern, der zu schnell vorbeiging. Und dann wieder wegsehen wie ertappt, wenn der mit einer hastigen Wendung seines Kopfes den Blick abzuschütteln versucht. Ich sehe, wie sie stehenbleiben, einander die Hand reichen und ein paar Worte miteinander wechseln, manchmal dringt Lachen hier hoch durch die Stille der himmelblauen Tiefsee. Einzelne Geräusche der Stadt spülen wie Brandung an meine Küste. Hinter meinem kreisrunden Zimmerfenster dagegen ist es immer still, höchstens das Orgeln des Windes ist dort zu hören. Beide Plätze sind mir gleich lieb: mein Zimmer oben im Turm und hier unten der Platz vor der Luke auf dem Dachboden. Meist kann ich mir die Geräusche vorstellen, die zu dem gehören, was ich sehe. Nur die unerwarteten Geräusche sind es, die mir in der Welt vorm stillen Turmfenster fehlen. Geräusche, die dazwischenfahren und nicht vorstellbar sind. Daß die Welt nicht berechenbar ist, trotz allem, was ich mir im Walfischbauch des Dachbodens und oben auf dem luftigen Turm ausgedacht habe. Deshalb zieht es mich nach unten zu Hellmund, zu Donatus und Köppen. Und wenn ich unten bin, wieder hinauf: daß die Welt sich außerhalb jeder Vorstellung immer neu erfindet, ist nur ihre eine Seite. Und zwar die, bei der man nicht um die nächste Ecke sehen kann. Die andere Seite aber ist auch wahr: die Welt ist nicht mehr, als was sie von sich zeigt vorm Fenster im Turm, wie das Bild in einem Rahmen. Ach, Jan, sagt Hellmund, du weißt nichts von der Welt, du denkst dir alles nur. Siehst du von oben etwa, wie ich mein Messer in der Tasche springen lasse? Nein sehen kann ich es nicht, erwidere ich trotzig, aber wissen vielleicht schon. Köppen seufzt: Du sitzt mit dem Rücken zum Fenster, Jan, und siehst die Welt nur im Spiegel. Als keiner etwas darauf sagt, setzt er hinzu: Ich möchte mal in deiner Haut stecken, aber es müßte für lange sein. Ich sehe ihn verwundert an, wie die Maus die Katze ansieht, wenn diese sie aus Kuriosität umherschubst, bevor sie sie frißt.
Juni
Luftgefechte in den Zeitungen: Am 1. Juni 1914 erschien um zwölfundeinhalb Uhr nachmittags ein Ferngewitter ohne Regen in nördlicher Richtung, es waren zwei starke Donner hörbar, Blitze wurden nicht beobachtet. Um zwei Uhr nachmittags waren im Nordwesten und Norden dunkle, stahlblaue Gewitterwolken zu sehen, die langsam näher rückten. Um zweiundeinhalb Uhr ließ sich der erste Donner vernehmen, auch wurden Zickzack- und Flächenblitze beobachtet.
Schwül ist es. Und geschäftig in der Stadt, kopflos kaufen die Leute die Läden leer, wer würde all die Seife aufbrauchen können, wenn das Essen wirklich knapp würde? Es gibt keine Logik in diesem Denken, das halb das Schlimmste befürchtet, halb sicher ist, daß alles spurlos an einem vorbeigeht. Was hilft gegen Krieg: die Tür verschließen, das Licht löschen, die Möbel hochstellen, hochklettern oder sich eingraben, Vorräte anlegen und Vorräte zu Bargeld machen, die Leute machen alles gleichzeitig. Das Kommende ist so unberechenbar, daß selbst die Sterne in diesem Juni von der hellen nächtlichen Dämmerung
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