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Tuermer - Roman

Tuermer - Roman

Titel: Tuermer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Danz
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du, Michael? Nein? Ja, natürlich nicht, es ist ja noch ganz warm. Vater schien über sich selbst verwirrt. Er schwieg eine Weile, und ich wartete, daß er mir erzählen würde, was ihn verwirrte. Er schwieg, und meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege: ich war jetzt dreiunddreißig Jahre alt und arbeitete als Bauingenieur seit Jahren in der Verwaltung einer Kunsthochschule. Ich dachte manchmal darüber nach, wie es wäre, zu heiraten. Nur wußte ich nicht, wen ich hätte heiraten sollen. Ich hatte in diesem Moment meines Lebens die Freiheit, überall hinzugehen. Ich hatte mich noch nicht mit der Welt verknotet, ich mußte nichts aus mir herausreißen, ich war frei wie die Tauben, die um den Turm flogen. Ich hatte sogar die Freiheit, nicht mehr zu sein. Aber warum dachte ich das jetzt, ich war doch zufrieden mit meinem Leben, nichts quälte mich so, daß ich es für unerträglich halten konnte. Nein, das war auch nicht der Grund. Es gibt einen Grund, sterben zu wollen, der ist, daß man das Leben nicht mehr erträgt. Und es gibt einen anderen Grund, nicht am Leben zu hängen, der ist, daß man sich noch nicht für das Leben entschieden hat. Vater hatte sich entschieden, er hatte Kinder bekommen und sich Feinde gemacht. Er hatte im Glauben, das Richtige zu tun, das Falsche getan. Er hatte ein Ehebett gezimmert und sich eine teure Uhr gekauft, die er wie seinen Augapfel hütete. Wann hat das angefangen, daß er sich auf das Leben eingelassen hat? Einmal hatte es ihn überrollt. Als er mit siebzehn ein Mädchen geschwängert hatte. Aber das Kind wurde nicht geboren, er wurde noch nicht Vater, er blieb, wo er war, im Vorzimmer des Lebens und wartete, daß ihn einer hineinbat. Mit einundzwanzig zog er mit meiner schwangeren Mutter in eine eigene kleine Wohnung. Ich kam mir alt vor. Ich wünschte mir, der verspätete Sohn, daß Vater mich leitete, wie ein Vater seinen Sohn leiten sollte. Er hatte das nie getan. Er hat mich mit zum Angeln genommen, und er ist mit mir mit dem Fahrrad an die Ostsee gefahren, er hat mich das Fallenstellen gelehrt, aber wenn ich abends im Zelt lag, hat er nie geredet. Einmal hatte ich mir ein Herz gefaßt und ihn gefragt, ob er noch an das ungeborene Kind denke. Er sagte: Wir müssen uns mal ganz viel Zeit nehmen, und dann erzähle ich dir, wie das alles bei mir war und was ich jetzt darüber denke. Und nach einer Pause: Man muß in der Familie schließlich nicht dieselben Fehler zweimal machen. Und jetzt, hier oben auf dem Turm, stand er wieder so da, als ob er etwas erzählen wollte und nicht mit der Sprache herauskam. Ich mußte es probieren: Hast du es denn versucht – so einen Himmel zu malen? meine ich.
    Nach einer kurzen Pause begann er: Achtzig war das. Neunzehnachtzig. Da hab ich ein Bild gemalt mit einer Taube drauf, ich konnte gut malen. Vor allem Tiere und Landschaft. Ich hab es so gut gekonnt, daß man gar keine umständlichen Titel geben mußte. Man hat immer gesehen, daß es hinter dem Gemalten um mehr ging. Du weißt schon, das war damals fast eine fixe Idee, daß man so ein Bild dechiffrieren muß, weil nie nur einfach das gemeint war, was man sah. Die Taube auf dem Bild war rücklings auf den Zeiger einer Sonnenuhr gespießt. Das sah so verrückt aus, daß jeder gleich wußte, was gemeint war. Aber das war eben nicht gemeint, denn ich hab mir das nicht ausgedacht wegen der Bedeutung. Ich hab es gesehen, und da hatte es keine Bedeutung, das war das Schlimme daran. Es war einfach passiert, weil ein Viech – und Viecher sind wir alle – so ums Leben kommen kann. Durch so einen dämlichen Zufall. Er hielt seine Hand ausgestreckt vor sich hin, bis in die Fingerspitzen angespannt. Dann drehte er langsam den Handrücken zur Erde und krümmte die Finger. Ich hab nämlich gesehen, wie sie runtergefallen ist. Ich weiß nicht, wie so ein Vogel runterfallen kann, wahrscheinlich war sie nicht mehr ganz echt. Vielleicht war sie auch schon vorher tot. Sie ist wie ein nasser Lappen nach unten gefallen, genau auf den Zeiger. Es gab ein leises durchdringendes Geräusch wie das schnelle Reißen eines fein gewebten Stoffes. Ich stand daneben. Ich hab meinen Skizzenblock rausgeholt und das abgemalt. Und dann bin ich weggegangen. Ich hätte es nicht malen müssen, ich konnte das gar nicht vergessen. Als ich wieder auf dem Turm war, ein paar Tage später, wegen … du weißt ja, da hatte ich den Gedanken, daß es eigentlich mich hätte treffen müssen. Daß ich denen sofort schreiben müßte,

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