Tuermer - Roman
daß ich aufhöre, daß sie den Namen
Tuermer
anderweitig vergeben könnten, egal was dann mit mir und mit euch passieren würde. Weil schon eins dafür gestorben ist: die Taube hat es an meiner Stelle getroffen. Dabei hätte
ich
vom Turm fallen sollen für das, was ich gemacht habe.
Mir zog es den Boden unter den Füßen fort wie damals, als mir die Nachbarin meiner Großeltern erzählte, daß Vater vor mir fast schon einmal ein Kind gehabt hätte. Was um Himmels willen hatte er gemacht. Wir hatten nie richtig darüber gesprochen, nur als es nach der Wende rauskam, kurz. Er hat alle Freunde verloren, es war eine schlimme Zeit für ihn. Aber jetzt ist es vergessen, dachte ich zumindest. Diesmal hatte ich nicht den Mut zu fragen, da müßte man sich mal ganz viel Zeit nehmen.
Turm
Ich stehe mit dem Rücken zum offenen Fenster im Badezimmer meines Apartments. Der Spiegel zeigt mein Bild im Kniestück. Mein Kopf ist schon tief in die Nacht verwachsen und liegt hinter meinem Rücken als Pflasterstein auf der Straße, über die ab und an ein Auto fährt. Und das Geräusch von Türenöffnen, Menschen, die aufs Pflaster treten, gedämpft lachen und ungeschickt stolpern über meinen Schatten und in unterschiedliche Richtungen auseinandergehen. Ich blicke lange in mein Spiegelgesicht, bis es mir ganz fremd ist, ein einfaches, ein Kindergesicht mit runden Augen und freundlichen Lippen und erschreckend vielem, was ich nicht weiß und nicht kenne. Still ist es, ganz still, und ich höre Grillen aus den Wiesen einer fernen Sommernacht und wende mich um, als hätte jemand mich gerufen: Ist das Zuhause? Hier? Da ist mein Schatten, der sich aus dem erleuchteten Fenster lehnt, tief unten auf dem Hof: ein Junge, was kann der mitten in der Nacht hier wollen. Ich seh mich an Vaters Hand auf den Turm steigen. Wie lange war das verschüttet. Sehr hoch ist der Turm, viele Stufen einer Wendeltreppe. Vater hat die leise klirrenden Schlüssel. Warum bin ich dabei? Vielleicht habe ich mitgewollt und geweint, oder er hat gesagt, geheimnisvoll: Komm mit, ich zeig dir was. Aber er hat mir nichts gezeigt, das weiß ich noch. Als wir oben in einem Zimmer stehen, einem kleinen Zimmer mit gekrümmten Wänden, sagt er: Hier. Setz dich hier hin, Michael. Warte ein bißchen. Ich setze mich auf einen Stuhl, es sind nur Stühle, ein alter Ofen, ein paar leere Flaschen im Zimmer. Vater zieht einen Stuhl ans Fenster, holt sein Fernglas aus der Hülle und sieht damit hinaus. Ich warte, denn bald würde das geschehen, weshalb wir hier hinaufgestiegen sind. In Gedanken rede ich mit meinen Händen.
Vater sieht aus dem Fenster. Seit einer Ewigkeit unbeweglich. Er ist eingeschlafen, denke ich und gehe zu ihm, um ihn zu wecken, aber er dreht sich ungehalten nach mir um: Was denn? Kannst du nicht fünf Minuten … es ist gleich soweit. Ich setze mich und ahne, was gleich soweit ist, hat mit mir nichts mehr zu tun, ich werde nichts wissen von dem, worauf Vater wartet. Aha, sagt Vater nach einer Weile und nimmt das Fernglas herunter. Na also, sagt er, als er es wieder in die Lederhülle packt, und zu mir: Komm, wir sind fertig. Ich warte nicht mehr, ich sage auch nichts. Wir steigen die vielen Stufen vom Turm herab, ich hinter ihm, er merkt nicht, wie ich langsamer werde und uns schon mehrere Windungen der engen Treppe trennen. Jetzt sehe ich hoch aus einem Fenster am Treppenabsatz. Ich sehe meinen Schatten in einem hellen Rahmen stehen, unten auf der Straße, die Nacht ist sehr dunkel. Einsam sieht dieses Bild aus, Vaters Schritte sind jetzt weit entfernt. Ich kann nicht hoffen heute, daß er an mich denkt, bevor er die Turmtür von außen abschließt. Ich renne die Stufen hinunter und rufe: Warte, warte. Das sind meine ersten Worte, seit wir den Turm betreten haben: das Echo der vergeblichen Stunden. Stunden waren es sicher oder eine ganze Nacht, das erste Mal mit Vater auf dem Turm.
Tuermer
Als ich schon recht schnell lesen konnte, nahm ich mir Mutters und Vaters Schreibtischfächer vor. Das waren in die Schrankwand unserer Wohnstube eingelassene Fächer, deren Türen man nach dem Herausklappen als Schreibtischflächen benutzen konnte. Hinten lagen verschiedene Papiere, von denen mich in Mutters Fach nur ein paar Briefe und Ansichtskarten interessierten, deren Handschrift für mich aber zu schwer zu lesen war. Die Karten zeigten Motive aus Indonesien, Bulgarien und eine Dortmunder Brücke.
Bei Vater gab es mehr Drucksachen: links ein Stapel mit Autopapieren,
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