Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
aus. »Wenn ich für jedes ›Wie oben, so unten‹ ein Zweishillingstück bekommen hätte, wäre ich ein reicher Mann.«
»Wie gestern, so auch morgen«, sagte Joe Waites im gelangweilten, nasalen Tonfall des Styx-Priesters. »So steht es im Buch der Katastrophen geschrieben.« Er gähnte übertrieben herzhaft, wodurch Will einen eher beunruhigenden Blick auf sein rosafarbenes Zahnfleisch und den traurigen verbliebenen Zahn werfen konnte.
»Und kennt man eine Katastrophe, kennt man alle.« Imago stupste Will freundschaftlich in die Seite.
»Amen«, riefen Jesse Shingles und Joe Waites im Chor, stießen mit ihren Bechern an und lachten.
»Na, na, na, der Gottesdienst spendet denjenigen Trost, die nicht selbst denken können«, warf Tam ein.
Will sah aus dem Augenwinkel, dass Cal in das Gelächter der anderen miteinstimmte und ihnen zuprostete – was Will ziemlich verwirrte. In manchen Momenten schien sein Bruder regelrecht erfüllt vom Glaubenseifer, während er in anderen Situationen nicht zögerte, einen völligen Mangel an Respekt, wenn nicht sogar tiefe Verachtung für diesen Glauben zu zeigen.
»Und, Will, was vermisst du vom Leben da oben am meisten?«, fragte Jesse Shingles plötzlich und zeigte mit dem Daumen in Richtung der Höhlendecke über ihnen. Will war unsicher, was er darauf antworten sollte, doch da fuhr der kleine Mann auch schon fort: »Ich würde ja Fish-and-Chips vermissen … nicht, dass ich diesen Bratfisch mit Pommes je gegessen hätte.« Verschwörerisch zwinkerte er Imago zu.
»Das reicht jetzt.« Tam runzelte besorgt die Stirn und ließ seinen Blick über die Umstehenden wandern. »Das hier ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.«
Während Cal ordentlich seinem Getränk zugesprochen hatte, stellte er nun fest, dass Will noch immer zögerte. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, wandte sich an seinen Bruder und zeigte auf dessen noch unberührten Zinnbecher: »Na los, probier es!«
Zaghaft nahm Will einen Schluck der kreidegrauen Flüssigkeit und behielt sie einen Moment im Mund, ehe er sie hinunterschluckte.
»Und?«, fragte Cal.
Will fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nicht schlecht«, sagte er.
Doch dann setzte die Wirkung des Getränks ein. Will schossen die Tränen in die Augen und seine Kehle brannte. Er prustete und versuchte vergebens, einen Hustenanfall zu unterdrücken. Onkel Tam und Cal grinsten. »Ich bin noch zu jung, um Alkohol zu trinken«, krächzte Will und stellte den Becher auf den Tisch.
»Wer sollte dir’s verbieten? Hier unten gelten völlig andere Regeln. Solange du dich an das Gesetz hältst, deinen Beitrag leistest und ihre Gottesdienste besuchst, wird niemand sich daran stören, wenn du mal ein bisschen Dampf ablässt. Außerdem geht das eh niemanden was an«, sagte Tam und klopfte ihm sanft auf den Rücken.
Im nächsten Moment hoben die anderen ihre Becher, wie um Tam beizupflichten, und prosteten sich gegenseitig zu: »Hoch die Tassen!«
Und so ging es weiter, Runde um Runde, bis Will nach dem vierten oder fünften Becher zu zählen aufhörte. Tam hatte gerade einen komplizierten und unverständlichen Witz über einen Polizisten mit Blähungen und die Tochter eines blinden Glaskugeljongleurs erzählt, auf den Will sich absolut keinen Reim machen konnte, obwohl die anderen die Geschichte zum Brüllen komisch fanden.
Noch immer kichernd griff Tam nach seinem Becher und setzte zum Trinken an, als er plötzlich die Stirn runzelte, einen zweiten Blick in sein Getränk warf und mit Daumen und Zeigefinger irgendetwas aus dem Schaum fischte. »Ich hab schon wieder die blöde Schnecke erwischt«, sagte er, woraufhin die anderen in hysterisches Gelächter ausbrachen.
»Du stehst innerhalb eines Monats vor dem Altar, wenn du sie nicht isst«, dröhnte Imago.
»Ja, wenn das so ist …!«, erwiderte Tam lachend und legte sich zu Wills Verblüffung das schlaffe, graue Etwas auf die Zunge. Er bewegte die Schnecke eine Weile im Mund, kaute sie dann kräftig und schluckte sie hinunter – unter grölendem Applaus seiner Freunde.
In der darauffolgenden Stille fasste Will all seinen angetrunkenen Mut zusammen und meldete sich zu Wort.
»Tam … Onkel Tam … ich brauche deine Hilfe.«
»Alles, was du willst, mein Junge«, sagte Tam und legte Will eine Hand auf die Schulter. »Du brauchst nur zu fragen.«
Aber wo sollte er anfangen? Wobei genau brauchte er Hilfe? Ihm gingen so viele Probleme durch den vom Alkohol
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