Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
misstrauten die beiden Jungen ihren Klassenkameraden weiterhin; sie waren fest davon überzeugt, dass die Triezereien sofort wieder beginnen würden, sobald sie sich eine Blöße gaben. Abgesehen von Chesters Teilnahme an diversen Schulsportgruppen, was er seiner Körperkraft verdankte, blieben die beiden Jungen Außenseiter – Einzelgänger am Rand des Spielplatzes. Geborgen in ihrer Isolation, sprachen sie mit niemandem, und niemand sprach mit ihnen.
Es hatte mehrere Jahre gedauert, bis sie zum ersten Mal miteinander geredet hatten – obwohl heimlich jeder den anderen dafür bewundert hatte, wie er sich gegen die Schultyrannen behauptete. Ohne es zu bemerken, drifteten sie immer stärker aufeinander zu und verbrachten während der Schule mehr und mehr Zeit miteinander. Will war so lange allein und ohne Freund gewesen, dass er sich widerstrebend eingestehen musste, wie sehr er es genoss, einen Kumpel zu haben. Aber er wusste auch, wenn diese Freundschaft wachsen sollte, dann musste er Chester früher oder später seine große Leidenschaft offenbaren: seine Ausschachtungen und Tunnel. Und jetzt war der Moment gekommen.
Will fuhr zwischen grasbewachsenen Hügeln, Kratern und wilden Müllkippen hindurch und hielt erst am anderen Ende der Vierzig Krater mit quietschenden Reifen an. Er stieg ab und versteckte sein Rad in einer kleinen Mulde unterhalb eines verrosteten, ausgeschlachteten Autowracks.
»Da sind wir«, verkündete er, als Chester ihn eingeholt hatte.
»Und hier wollen wir also graben?«, keuchte Chester und betrachtete prüfend das Gelände um ihn herum.
»Nein. Ein Stückchen weiter hinten«, erwiderte Will.
Chester trat ein paar Schritte zurück und musterte Will verwirrt. »Werden wir denn einen neuen Tunnel ausheben?«
Statt einer Antwort kniete Will sich auf den Boden und tastete zwischen dichtem Grasgestrüpp herum, bis er fand, was er suchte – ein geknüpftes Stück Seil. Er stand auf, nahm das lose Tauende und zog kräftig daran. Zu Chesters Überraschung brach der Boden entlang einer Linie auf; Erde rieselte von einer dicken Sperrholzplatte, die sich langsam anhob und einen dunklen Eingang freigab.
»Warum musst du das Loch verstecken?«, fragte Chester.
»Weil ich nicht will, dass irgendwelche Mistkerle in meinem Tunnel herumschnüffeln«, erwiderte Will knapp.
»Wir klettern doch wohl nicht da rein, oder?«, rief Chester und trat näher, um einen Blick in die Öffnung zu werfen.
Aber Will ließ sich bereits in den Schacht hinab, der nach einem etwa zwei Meter langen senkrechten Abschnitt in einem flacheren Winkel in die Tiefe führte.
»Für dich hab ich auch einen«, sagte Will aus dem Inneren des Schachts, während er einen gelben Grubenhelm aufsetzte und die daran befestigte Helmlampe einschaltete. Sie leuchtete Chester, der unschlüssig am Rand hockte, direkt ins Gesicht.
»Also, kommst du nun oder nicht?«, rief Will gereizt. »Glaub mir, es ist vollkommen ungefährlich.«
»Bist du da sicher?«
»Klar«, erwiderte Will, schlug mit großer Geste gegen einen der Pfosten neben sich und lächelte zuversichtlich, um seinem Freund ein wenig Mut zu machen. Und er lächelte unverwandt weiter, als hinter ihm – außerhalb Chesters Sicht – ein kleiner Guss aus Erdbrocken gegen seinen Rücken prasselte. »So sicher wie daheim auf der Couch. Ehrlich.«
»Na, dann …«
Als er hinuntergeklettert war, blieb Chester vor Überraschung fast die Spucke weg. Ein mehrere Meter breiter und hoher Schacht führte mit leichter Neigung tiefer in die Dunkelheit; die Seiten waren in regelmäßigen Abständen mit alten Holzstempeln abgestützt. Das Ganze sah genauso aus wie die Stollen in den alten Cowboy-Filmen, die sonntags immer im Fernsehen liefen.
»Das ist ja cool! Hast du das alles alleine ausgegraben, Will? Unmöglich!«
Will grinste selbstzufrieden. »Doch, klar hab ich das. Ich arbeite seit letztem Jahr an diesem Tunnel, und du hast noch nicht mal die Hälfte gesehen. Hier geht’s lang …«
Er zog die Sperrholzplatte wieder über die Öffnung, sodass der Zugang zum Tunnel verschlossen war. Mit gemischten Gefühlen sah Chester zu, wie das letzte Stückchen von blauem Himmel verschwand. Dann machten sie sich auf den Weg durch den Tunnel, vorbei an Stapeln aus Holzplanken und Stützbalken, die unordentlich gegen die Seiten lehnten.
»Wow!«, stieß Chester leise hervor.
Denn plötzlich öffnete sich der Schacht zu einer Art Höhle von der Größe eines geräumigen Zimmers, von der
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