Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
dass die Styx vorläufig alles in Erfahrung gebracht hatten, was sie wissen wollten, und sie hofften wider jedes bessere Wissen, dass die quälenden Befragungen endgültig vorüber waren.
Und so vergingen die Stunden; die beiden Jungen schliefen und wachten, Mahlzeiten kamen und gingen, und sie vertrieben sich die Zeit damit, rastlos auf und ab zu laufen, sofern sie sich kräftig genug fühlten, oder auf dem Mauervorsprung zu liegen und auszuruhen. Gelegentlich riefen sie sogar laut, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber vergebens. In dem beständigen, gleichförmigen Dämmerlicht verloren sie jedes Zeitgefühl und wussten bald nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war.
Jenseits der Mauern ihrer Arrestzelle waren komplizierte Vorgänge in die Wege geleitet worden: Nachforschungen, Versammlungen und Besprechungen, allesamt in der krächzenden Geheimsprache der Styx, die über ihr Schicksal entschieden.
Von alldem nichts ahnend, bemühten sich die Jungen nach Kräften, nicht den Mut zu verlieren. Flüsternd sprachen sie ausführlich darüber, wie sie eventuell fliehen könnten und ob Rebecca wohl letztendlich eins und eins zusammenzählen und die Behörden zu dem Tunnel im Keller führen würde. Wie unglaublich dumm von ihnen, dass sie keine Nachricht hinterlassen hatten! Vielleicht war ja auch Wills Vater die Lösung für all ihre Probleme: Würde er sie irgendwie hier rausholen können? Und welcher Wochentag war wohl inzwischen?
Und was noch wichtiger war: Wie kam es, dass sie nicht stanken – obwohl sie sich nun seit Tagen nicht gewaschen hatten und ihre Kleidung definitiv einen muffigen Geruch angenommen haben musste?
Während einer besonders hitzigen Debatte darüber, wer diese Leute waren und woher sie kamen, öffnete sich auf einmal die Sichtklappe und der ältere Polizist warf einen Blick in die Zelle. Sofort schwiegen die Jungen. Die Tür wurde aufgeschlossen, die bekannte grimmige Gestalt erschien im Türrahmen und verdeckte das aus dem Flur einfallende Licht fast vollständig. Wen von ihnen würde es dieses Mal treffen?
»Besuch.«
Ungläubig schauten Will und Chester sich an.
»Besuch? Für uns?«, fragte Chester zweifelnd.
Der Polizist schüttelte den massigen Kopf und sah dann zu Will. »Du da.«
»Was ist mit Ches …?«
»Du da, mitkommen. SOFORT!«, brüllte der Polizist.
»Keine Sorge, Chester, ich werde ohne dich nirgendwohin gehen«, versicherte Will seinem Freund, der sich mit einem gequälten Lächeln zurücklehnte und stumm nickte.
Will stand auf und trottete aus der Zelle. Chester sah zu, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Wieder einmal war er allein. Er schaute auf seine Hände, die rau und schmutzverkrustet waren, und sehnte sich plötzlich inständig nach seinem Zuhause. Das nagende Gefühl der Hilflosigkeit wuchs und wuchs, heiße Tränen der Verzweiflung stiegen ihm in die Augen. Nein, er würde nicht weinen – diese Genugtuung würde er ihnen nicht verschaffen. Er wusste, dass Will schon irgendetwas einfallen würde und dass er dann bereit sein musste.
»Komm schon, Blödmann«, sagte er leise zu sich selbst und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Auf den Boden und gib mir zwanzig«, ahmte er die Stimme seines Fußballtrainers nach; dann ließ er sich auf den Boden sinken und begann laut zählend mit den Liegestützen.
Will wurde in einen weiß getünchten Raum mit glänzendem Holzboden gebracht, in dem ein großer Eichentisch mit ein paar Stühlen stand. Am Tisch saßen zwei Gestalten, die er nur verschwommen erkennen konnte, da sich sein Sehvermögen von der Dunkelheit in der Zelle noch nicht umgestellt hatte. Er rieb sich die Augen und schaute an sich herab. Sein T-Shirt war voller Flecken von Erbrochenem. Zaghaft kratzte er daran, um das Schlimmste zu entfernen, als seine Aufmerksamkeit von einer seltsamen fensterartigen Luke in der Wand zu seiner Linken abgelenkt wurde. Die matte, gesprenkelte Oberfläche dieser Glasscheibe – falls es sich wirklich um Glas handelte – schimmerte blauschwarz und schien keinerlei Licht der Leuchtkugeln über dem Tisch zu reflektieren.
Aus einem unerklärlichen Grund gelang es Will nicht, die Augen von der Vertiefung abzuwenden. Plötzlich spürte er einen stechenden Anflug von Erinnerung, und ein neues, aber zugleich seltsam vertrautes Gefühl überkam ihn: Sie befanden sich dahinter. Sie beobachteten jeden seiner Schritte. Und je länger er auf die Scheibe starrte, desto stärker umhüllte ihn die Dunkelheit,
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