Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
ungefähr wie eine Turnhalle am ersten Tag nach den Sommerferien. Dennoch saß er hier allemal bequemer als in der Zelle, in der er so lange Zeit mit Chester eingesperrt gewesen war. Als Will an seinen Freund dachte, der nun allein in dem dunklen, feuchten Kerker hockte, hatte er plötzlich Gewissensbisse. Er fragte sich, ob Chester wusste, dass man ihn freigelassen hatte, und schwor sich, dass er einen Weg finden würde, seinen Freund da herauszuholen – und wenn es das Letzte war, was er tat.
Niedergeschlagen ließ Will sich gegen die Rückwand der Kutsche sinken und legte die Füße auf die gegenüberliegende Bank, dann zog er den lederartigen Vorhang beiseite und starrte aus dem offenen Fenster. Während die Kutsche durch die engen, menschenleeren Straßen rumpelte, wechselten sich düstere Häuser und unbeleuchtete Ladenfronten mit eintöniger Regelmäßigkeit ab. Cal ahmte Will nach und lehnte sich ebenfalls zurück, die Füße genau wie er auf dem Sitz. Gelegentlich schaute er zu ihm hinüber und lächelte dann zufrieden.
In Gedanken versunken, saßen die beiden Jungen schweigend nebeneinander, doch es dauerte nicht lange, bis sich Wills natürliche Wissbegierde bemerkbar machte. Konzentriert versuchte er, sich die düstere Szenerie, die an ihnen vorbeiflog, einzuprägen. Aber nach einer Weile wurden ihm die Lider schwer; seine extreme Erschöpfung und die einschläfernde Gleichförmigkeit der scheinbar unendlichen Unterwelt forderten ihren Tribut. Das rhythmische Klappern der Hufe auf dem Pflaster lullte ihn ein, und schließlich fiel er in einen nervösen Schlaf, aus dem er immer wieder hochschreckte, wenn das Schlingern der Kutsche ihn zu sehr durchrüttelte. Sehr zu Cals Belustigung sah er sich dann mit verwirrtem Gesichtsausdruck verlegen um, ehe sein Kopf wieder nach vorne fiel und er der übermächtigen Müdigkeit nachgab.
Als der Kutscher mit der Peitsche knallte und ihn dadurch erneut weckte, wusste er nicht, ob er nur Minuten oder schon Stunden geschlafen hatte.
Die Kutsche flog förmlich über die Straße, deren Laternen nun in größeren Abständen Licht durch das Fenster warfen. Will nahm an, dass sie inzwischen den Stadtrand erreicht haben mussten. Zwischen den Gebäuden lagen immer wieder Brachflächen, die von dunkelgrünen, fast schwarzen Flechten, Moosen oder etwas Ähnlichem überzogen waren. Danach folgten auf beiden Seiten der Straße breitere Streifen Land, die mit verfallenen Zäunen in Grundstücke unterteilt und mit pilzartigen Gewächsen überwuchert waren.
Nach einer Weile wurde die Kutsche langsam und überquerte eine kleine Brücke über einem tintenschwarzen Kanal. Will starrte hinunter in die langsame, träge Strömung, die zäh wie Rohöl dahinfloss. Aus einem unerklärlichen Grund erfüllte ihn der Anblick mit Furcht.
Er hatte sich gerade wieder zurückgelehnt und war kurz davor, erneut einzunicken, als die Straße plötzlich steil abfiel und die Kutsche nach links schwenkte. Dann wurde die Straße wieder ebenerdig, der Kutscher rief »Brrr!« und die Pferde fielen in Schritt.
Will war jetzt hellwach und steckte den Kopf aus dem Fenster, um nachzusehen, was da vor sich ging. Ein riesiges Metallgitter versperrte den Weg, und am Straßenrand drängte sich eine Gruppe von Männern um ein Kohlebecken, um sich die Hände zu wärmen. Ein paar Schritte von ihnen entfernt stand eine verhüllte Gestalt mitten auf der Straße und schwenkte eine Laterne als Zeichen zum Anhalten. Als die Kutsche schließlich zum Stehen kam, sah Will zu seinem Entsetzen, dass die unverkennbare Silhouette eines Styx aus dem Schatten trat. Rasch zog er den Vorhang vor, duckte sich tief in die Kutsche und warf Cal einen fragenden Blick zu.
»Das ist das Schädeltor, der Hauptzugang zur Kolonie«, erklärte Cal in beruhigendem Ton.
»Ich dachte, wir wären bereits in der Kolonie.«
»Nein, nein«, erwiderte Cal kopfschüttelnd, »das war doch nur der Bezirk – eine Art … Vorposten … unsere Grenzstadt.«
»Dann gibt es also hinter dem Tor noch mehr?«
»Noch mehr? Du lieber Himmel, dahinter liegen Meilen und Abermeilen!«
Will war sprachlos. Ängstlich schaute er zur Tür, als das hallende Klackern von Stiefelabsätzen auf dem Kopfsteinpflaster näher kam. Cal berührte ihn am Arm. »Mach dir keine Sorgen, sie überprüfen jeden, der das Tor passieren will. Halt einfach den Mund, und sollte es ein Problem geben, überlass mir das Reden.«
In dem Moment wurde die Tür auf Wills Seite
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