Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
bellenden Husten. Schließlich ging die Tür auf, und eine ziemlich ungepflegte Frau mittleren Alters, mit einer Zigarette im Mundwinkel, musterte die Sozialarbeiterin misstrauisch von Kopf bis Fuß.
»Was soll der Zirkus?« Sie kniff ein Auge gegen den aufsteigenden Qualm der Zigarette zusammen, die mit jedem Wort auf und ab zuckte.
»Ich bringe Ihnen Ihre Nichte, Mrs Boswell«, verkündete die Sozialarbeiterin und deutete auf Rebecca, die neben ihr stand.
»Sie bringen wen?«, erwiderte die Frau scharf und streute dabei Asche auf die makellosen Schuhe der Sozialarbeiterin. Rebecca schauderte.
»Erinnern Sie sich denn nicht mehr? Wir haben doch gestern telefoniert.«
Die Frau warf aus tränenden Augen einen trüben Blick auf Rebecca, die sich ein wenig vorbeugte, damit sie besser zu sehen war. »Hallo, Tante Jean«, sagte sie und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen.
»Rebecca, mein Schatz, natürlich. Meine Güte, bist du groß geworden! Fast schon eine junge Dame«, hustete Tante Jean und öffnete die Tür vollständig. »Komm rein, komm rein. Ich hab was aufm Herd. Bin gleich wieder da.« Sie drehte sich um, schlurfte durch den kleinen Flur und verschwand in der Küche. Rebecca und die Sozialarbeiterin betrachteten die schiefen Türme alter Zeitungen entlang der Wände und den riesigen Haufen ungeöffneter Briefe und Postwurfsendungen mitten auf dem schmutzigen Teppich. Alles war mit einer feinen Staubschicht überzogen, und in den Ecken des Flurs hingen Spinnweben. Die Wohnung stank unangenehm nach kaltem Zigarettenqualm. Schweigend standen die beiden Besucherinnen da, bis die Sozialarbeiterin sich plötzlich aus ihrer Schreckensstarre riss und überstürzt von Rebecca verabschiedete. Sie schien es wirklich eilig zu haben, aus der Wohnung zu kommen, und Rebecca sah ihr hinterher, wie sie hinaushastete und kurz beim Aufzug stehen blieb, als hoffte sie, dass dieser wie durch ein Wunder wieder funktionierte und sie nicht den langen Weg nach unten laufen musste.
Zögerlich schloss Rebecca die Tür und folgte ihrer Tante in die Küche.
»Ich könnte hier echt Hilfe gebrauchen«, sagte Tante Jean und kramte ein Päckchen Zigaretten aus dem Chaos auf dem Tisch hervor.
Rebecca musterte die heruntergekommene Umgebung. Sonnenstrahlen schnitten durch den Nebel aus Zigarettenqualm, der ihre Tante wie eine persönliche Gewitterwolke umgab. Sie rümpfte die Nase, als sie den beißenden Geruch des angebrannten Essens roch, der in der Luft hing.
»Wenn du in meiner Bude bleiben willst, musst du ein bisschen was dafür tun«, stieß ihre Tante zwischen mehreren Hustenanfällen hervor.
Rebecca rührte sich nicht von der Stelle; sie fürchtete, bei der geringsten Bewegung von dem Schmutz bedeckt zu werden, der sämtliche Oberflächen überzog.
»Nun mach schon, Becky, stell deine Koffer ab und kremple die Ärmel hoch. Du kannst damit anfangen, dass du erst mal Teewasser aufsetzt.« Tante Jean lächelte, während sie sich an den Küchentisch hockte. Dann zündete sie sich mit ihrem Zigarettenstummel direkt die nächste an und versuchte, die glimmende Kippe in dem überquellenden Aschenbecher zu entsorgen. Aber da sie ihn verfehlte, drückte sie die Glut direkt auf der Oberfläche des Resopaltischs aus.
Das Haus der Familie Jerome war luxuriös und behaglich ausgestattet, mit dezent gemusterten Teppichen, polierten Holzoberflächen und warmen Wänden in dunklen Grün- und Rottönen. Cal nahm Wills Rucksack und stellte ihn neben einen kleinen Tisch mit einem cremeweißen Leinenzierdeckchen, auf dem eine Petroleumlampe mit einem Lampenschirm aus Uranglas stand.
»Hier entlang«, sagte er und zeigte auf die erste Tür, die aus dem Eingangsbereich führte. »Das ist unser Salon«, verkündete er stolz.
Der Raum verströmte eine gemütliche, wenngleich drückend warme Atmosphäre; nur aus dem schmutzverkrusteten Bodengitter an der Tür wehte eine leichte Brise frischer Luft. Die niedrige Decke war mit kunstvollen Stuckarbeiten versehen, die durch den Rauch und Ruß des prasselnden Feuers im offenen Kamin eine schmutzig weiße Tönung angenommen hatten. Auf einem fadenscheinigen Perserteppich vor dem Kamin schlief ein großes, räudig wirkendes Tier, das mit den Beinen in der Luft auf dem Rücken lag und schamlos ein Paar große, hängende Hoden präsentierte.
»Ein Hund!« Will war überrascht, hier unten ein zahmes Haustier anzutreffen. Das Tier war schiefergrau und fast vollständig kahl, bis auf ein paar dunkle
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