Tunnel - 02 - Abgrund
weiteres Mal ruckartig an, sodass die Jungen den Halt verloren und durcheinanderkugelten. Wieder herrschte einen Moment Stille und dann hörten sie zum zweiten Mal das klirrende Geräusch, das nun jedoch vom Zugende herüberschallte. Es gipfelte in einem heftigen Dröhnen, das die Jungen mit den Zähnen klappern und den gesamten Tunnel erbeben ließ, als hätte eine Explosion stattgefunden.
»Hab ich’s euch nicht gesagt?«, flüsterte Cal triumphierend in der darauf folgenden Stille. »Das sind Sturmtore.«
»Aber wozu dienen sie?«, fragte Chester.
»Sie sollen verhindern, dass der Levantewind die Kolonie mit voller Wucht trifft.«
Chester schaute ihn verständnislos an.
»Na, du weißt schon, die Stürme, die aus dem Erdinneren nach oben rasen«, erwiderte Cal und fügte hinzu: »Ist doch logisch, oder etwa nicht?« Er verdrehte die Augen, als hielte er Chesters Frage für völlig absurd.
»Wahrscheinlich hat er noch keinen dieser Pechstürme erlebt«, warf Will hastig ein. »Du musst dir das wie eine riesige Staubwolke vorstellen, Chester, die aus den Erdbereichen aufsteigt, zu denen wir gerade fahren – aus den Tiefen.«
»Oh, verstehe«, sagte sein Freund und wandte sich ab. Doch Will hatte den Ausdruck der Verärgerung gesehen, der über sein Gesicht gehuscht war. In dem Moment ahnte Will, dass die weitere Reise mit Chester und Cal nicht gerade einfach verlaufen würde.
Als der Zug erneut Fahrt aufnahm, ließen sich die drei Jungen wieder zwischen den Kisten nieder. Während der nächsten zwölf Stunden passierten sie noch zahlreiche Sturmtore. Und jedes Mal hielten sie wachsam Ausschau, falls einer der Kolonisten auf die Idee kommen sollte, mal nach Chester zu schauen. Doch es tauchte niemand auf, und nach jedem Zwischenstopp nahmen die Jungen ihre übliche Routine aus Schlafen und Essen wieder auf. Da Will spürte, dass sie sich dem Ende der Bahnstrecke nähern mussten, begann er, erste Vorkehrungen zu treffen: Auf die große Menge von Leuchtkugeln, die er bereits in den beiden Rucksäcken gesammelt hatte, packte er so viele Früchte, wie nur hineinpassten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo und wann sie in den Tiefen Nahrung finden würden, und er war fest entschlossen, alles mitzunehmen, was sie tragen konnten.
Das monotone Rattern des Zugs wiegte ihn in einen tiefen Schlaf, aus dem er urplötzlich durch das klirrende Scheppern einer Glocke gerissen wurde. In seiner schlaftrunkenen Verwirrung dachte er zuerst, sein Wecker würde klingeln, damit er endlich aufstand und sich für die Schule fertig machte. Automatisch tastete er nach seinem Nachttisch, doch statt des Weckers fanden seine Finger nur den dreckigen Waggonboden. Das mechanische Drängen der hämmernden Glocke riss ihn vollends aus dem Land der Träume, und er sprang auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Das Erste, was er sah, war Cal, der sich fieberhaft Socken und Schuhe anzog, während Chester nur verwirrt zuschaute. Das grelle Schrillen wurde immer lauter und hallte von den Wänden und der Tunneldecke wider.
»Macht schon, ihr beide!«, brüllte Cal lauthals.
»Warum?«, formulierte Chester lautlos mit den Lippen und wandte sich bestürzt an Will.
»Es ist so weit! Macht euch fertig!«, rief Cal und schnürte seinen Rucksack zu.
Fragend starrte Chester ihn an.
»Wir müssen hier raus!«, brüllte der kleinere Junge und deutete wild gestikulierend auf die Zugspitze. »Wir müssen abspringen, bevor wir den Bahnhof erreichen.«
5
Ein vollkommen anderer Zug als der, in dem ihre beiden Söhne in Richtung Erdinneres rasten, brachte Sarah nach London. Trotz ihrer Müdigkeit gestattete sie es sich nicht zu schlafen, erweckte allerdings die meiste Zeit bewusst diesen Eindruck, um andere Fahrgäste davon abzuhalten, sie anzusprechen. Da der Zug auf dem letzten Stück sehr häufig anhielt und immer mehr Passagiere zustiegen, wurde es im Abteil bald ziemlich eng. Sarah fühlte sich ausgesprochen unbehaglich. Am letzten Bahnhof war ein Mann mit einem ungepflegten Bart eingestiegen, ein armer Schlucker in einem schäbigen Mantel, der eine bunte Mischung von Plastiktüten mit sich schleppte.
Sie musste auf der Hut sein. Die Styx gaben sich manchmal als Stadtstreicher aus. Mit ihren hohlwangigen Gesichtern brauchten diese unterirdischen Polizeitruppen nur etwas Bartwuchs und eine ordentliche Lage Dreck und waren danach nicht mehr von den Unglückseligen zu unterscheiden, die sich in den Ecken jeder Stadt finden.
Es war ein
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