Tunnel - 02 - Abgrund
noch immer schmerzhaft in Erinnerung.
Während sie weiterging, spürte sie, wie eine Flut von Bildern aus ihrer Vergangenheit auf sie einstürzte und zu überwältigen drohte. Erneut fühlte sie die erdrückenden Selbstzweifel von damals, als sie einem Albtraum entflohen war, nur um inmitten eines anderen zu landen – in dieser fremden Welt, in der das gleißende Licht der Sonne ihr körperliche Qualen bereitete und in der alles so anders und ungewohnt wirkte. Doch das Schlimmste war der Gedanke an ihre Kinder.
Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt, sie hatte einfach gehen müssen. Ihr jüngstes, kaum eine Woche altes Kind hatte plötzlich Fieber bekommen, ein schreckliches, glühendes Fieber, das das winzige Wesen mit heftigen Schüttelfrösten quälte und ihm sämtliche Kraft raubte. Selbst jetzt noch konnte Sarah das nicht enden wollende Wimmern hören, und sie erinnerte sich wieder daran, wie hilflos sie und ihr Mann sich gefühlt hatten. Sie hatten den Arzt förmlich angefleht, ihnen ein Medikament zu geben, aber er hatte ihnen mitgeteilt, in seiner schwarzen Doktortasche befände sich nichts, was helfen würde. Sarah war fast hysterisch geworden, doch der Arzt hatte nur mürrisch den Kopf geschüttelt und war ihrem Blick ausgewichen. Sie wusste, was dieser Blick zu bedeuten hatte, denn sie kannte die Wahrheit: In der Kolonie herrschte ein ständiger Mangel an Arzneimitteln. Die geringen Mengen an wichtigen Medikamenten wie etwa Antibiotika, die man tatsächlich auf Vorrat angelegt hatte, waren ausschließlich für die Behandlung der herrschenden Klasse bestimmt – für die Styx und vielleicht einen äußerst kleinen Kreis innerhalb des Gouverneursrats.
Natürlich hätte es eine Alternative gegeben: Sarah hatte vorgeschlagen, etwas Penizillin auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, und wollte ihren Bruder Tarn bitten, es für sie zu besorgen. Doch Sarahs Ehemann hatte sich unnachgiebig gezeigt. »Eine solche Vorgehensweise kann ich nicht billigen« – das waren seine Worte gewesen, während er düster auf den unglückseligen Säugling starrte, der von Stunde zu Stunde schwächer wurde. Und dann hatte er irgendetwas von seiner Stellung in der Gesellschaft geschwafelt und dass es ihre Pflicht sei, die sittlichen Werte zu wahren. Nichts davon interessierte Sarah auch nur im Entferntesten – sie wollte einfach nur, dass ihr Kind wieder gesund wurde.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das glühend heiße Gesichtchen des wimmernden Säuglings ununterbrochen mit einem feuchten Tuch abzutupfen, um so vielleicht das Fieber zu senken – und zu beten. Im Laufe der darauf folgenden vierundzwanzig Stunden verstummte das Schreien des Kindes zu einem jämmerlichen kurzatmigen Keuchen, als müsse es seine ganze verbliebene Kraft für das Atmen aufwenden. Sarah versuchte verzweifelt, das Kind zu stillen, doch es war zwecklos – der Säugling war zu entkräftet, um zu saugen. Das Leben des Kindes schwand dahin, und es gab nichts, aber auch gar nichts, was sie dagegen hätte tun können.
Sarah hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren.
Sie durchlitt einen hilflosen Wutanfall nach dem nächsten und zog sich von der Wiege in eine Ecke des Zimmers zurück, wo sie sich die Arme mit den Fingernägeln aufkratzte und sich fest auf die Zunge biss, damit sie nicht aufschrie und den halb bewusstlosen Säugling aufweckte.
In der letzten Stunde seines kurzen Lebens wurden die kleinen blassen Augen immer glasiger und teilnahmsloser. Und irgendwann drang ein kleines Geräusch zu Sarah vor, die neben der Wiege im abgedunkelten Raum kauerte, und rüttelte sie aus ihrer Trostlosigkeit – ein winziges Wispern, als versuchte jemand, sie an etwas zu erinnern. Sie beugte sich über die Wiege. Sie wusste instinktiv, dass sie den letzten Atemzug gehört hatte, der ihrem Kind über die trockenen Lippen gekommen war. Es lag leblos da. Der Kampf war vorbei. Sarah hob das winzige Ärmchen des Kindes und ließ es auf die Matratze zurückfallen. Es war, als würde sie eine kunstvoll gefertigte Puppe berühren.
Damals hatte sie keine Träne vergossen; ihre Augen waren trocken und von eiserner Entschlossenheit erfüllt gewesen. In jenem Moment war jede Loyalität verschwunden, die sie gegenüber der Kolonie, ihrem Ehemann und der Gesellschaft verspürt hatte, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Und in jenem Moment hatte sie alles glasklar vor sich gesehen, als hätte jemand ein Licht in ihrem Kopf eingeschaltet. Sie wusste, was zu tun
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