Tunnel - 02 - Abgrund
cleverer Schachzug. In dieser Tarnung konnten sich die Styx so ziemlich überall herumtreiben, ohne bei den Übergrundlern unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Und außerdem ermöglichte diese Verkleidung es ihnen, Überwachungsposten an allen größeren Bahnhöfen einzurichten und die vorbeikommenden Passagiere genauestens zu beobachten.
Sarah konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie schon Obdachlose in Türeingängen hatte liegen sehen, deren glasige Augen unter den filzigen Haaren sie genau sondiert hatten – schwarze Pupillen, die in ihre Richtung blitzten und denen nichts entging.
Aber war dieser Landstreicher einer von ihnen? Sarah beobachtete sein Spiegelbild im Zugfenster, als er eine Dose Bier aus einer der schmuddeligen Einkaufstüten hervorkramte. Er riss die Dose auf und begann zu trinken, wobei er einen Teil der Flüssigkeit über seinen Bart verschüttete. Sarah hatte bemerkt, dass er sie bereits mehrfach direkt angesehen hatte. Er schien sie verschwommen zu mustern. Außerdem mochte sie seine Augen nicht – sie waren pechschwarz, und er blinzelte andauernd, als vertrüge er das Tageslicht nicht. Alles zusammen genommen ziemlich beunruhigende Anzeichen, aber so gerne Sarah auch den Platz gewechselt hätte, sie rührte sich nicht von der Stelle, um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Daher biss sie die Zähne zusammen und blieb reglos sitzen, bis der Zug endlich in den Londoner Bahnhof St. Pancras einfuhr. Sarah war unter den ersten Fahrgästen, die ausstiegen, und nachdem sie erst einmal die Ticketkontrolle hinter sich gelassen hatte, schlenderte sie zu dem Bereich, in dem sich die Bahnhofskioske befanden. Aufgrund der überall platzierten Überwachungskameras ging sie mit gesenktem Kopf und hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht, sobald sie in den Erfassungsbereich einer der Kameras kam. Vor einem Schaufenster blieb sie stehen und beobachtete in der spiegelnden Scheibe den Stadtstreicher, der langsam die Haupthalle des Bahnhofs durchquerte.
Wenn es sich bei ihm tatsächlich um einen Styx handelte oder um einen ihrer Späher, war es besser, sich in der Menschenmenge zu verbergen. Rasch überdachte sie ihre Fluchtchancen, und sie plante gerade, in den nächsten abfahrenden Zug zu springen, als der Obdachlose – keine fünfzehn Meter von ihr entfernt – plötzlich stehen blieb und in seinen Tüten wühlte. Als ein Mann ihn versehentlich streifte, beschimpfte er ihn und schlurfte dann schwankend weiter, die Arme weit von sich gestreckt, als würde er einen unsichtbaren Einkaufswagen mit blockierendem Rad vor sich herschieben. Sarah sah zu, wie er den Bahnhof durch den Hauptausgang verließ.
Mittlerweile war sie sich ziemlich sicher, dass es sich um einen echten Obdachlosen handelte, und außerdem konnte sie es kaum erwarten, ihre Reise fortzusetzen. Willkürlich wählte sie eine Richtung, eilte durch die Menge und verließ den Bahnhof durch einen Seitenausgang.
Vor dem Gebäude stellte sie plötzlich fest, dass es ein schöner Tag war und es auf den Straßen der Stadt vor Menschen wimmelte. Perfekt. Genau wie sie es mochte. Es war viel sicherer, sich inmitten einer großen Menge zu bewegen -je mehr Leute, desto besser. In Gegenwart zahlreicher potenzieller Augenzeugen würden die Styx es wohl kaum wagen, irgendeine Häscheraktion durchzuführen.
Zügig machte Sarah sich auf den Weg nach Norden, in Richtung Highfield. Das Dröhnen des dichten Straßenverkehrs schien sich zu einem durchgehenden Pulsieren zu verdichten, das sich vom Bürgersteig auf ihre Fußsohlen übertrug und durch ihren Körper wanderte, bis sie es fast in ihrem Magen zu spüren glaubte. Doch seltsamerweise empfand sie es als beruhigend – ein tröstliches, konstantes Vibrieren, als fühle sie den Puls der Stadt.
Während sie durch die belebten Straßen lief, betrachtete sie die neu errichteten Gebäude, doch sobald sie eine der zahlreichen, überall montierten Videoüberwachungskameras entdeckte, wandte sie rasch das Gesicht ab. Sie war erstaunt, wie viel sich in London verändert hatte, seit sie zum ersten Mal hier gewesen war. Wie lange war das her, fast zwölf Jahre?
Es heißt, die Zeit heile alle Wunden. Doch das hängt ganz davon ab, was in der Zwischenzeit geschehen ist.
Viele Jahre lang war Sarahs Leben eine eintönige, trostlose Wüste gewesen; sie hatte das Gefühl, während dieser Zeit gar nicht richtig gelebt zu haben. Obwohl das Ganze schon etliche Jahre zurücklag, war ihr die Flucht aus der Kolonie
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