Tunnel - 02 - Abgrund
war – und zwar mit einer solch unerschütterlichen Überzeugung, dass nichts sie aufhalten konnte. Sie musste ihren beiden anderen Kindern das gleiche Schicksal ersparen, koste es, was es wolle.
Noch am selben Abend, als der Leichnam des toten Säuglings ohne Namen in der Wiege auskühlte, hatte sie ein paar Sachen in eine Umhängetasche gestopft und sich ihre beiden Söhne geschnappt. Während ihr Mann das Haus verlassen hatte, um Vorkehrungen für die Beerdigung zu treffen, schlich sie sich mit beiden Jungen aus der Tür und hastete zu einer der Fluchtrouten, die ihr Bruder ihr einst beschrieben hatte.
Doch als hätten die Styx jeden ihrer Schritte gekannt, drohte ihr Unterfangen schon bald zu scheitern und entwickelte sich zu einem Katz-und-Maus-Spiel. Während sie sich durch das Labyrinth von Lüftungsschächten kämpfte, waren die Häscher ihr immer dicht auf den Fersen gewesen. Sarah erinnerte sich, wie sie in der Dunkelheit einen Moment innegehalten hatte, um wieder zu Atem zu kommen. Sie hatte sich gegen die Tunnelwand gelehnt, unter jedem Arm ein unruhig zappelndes Kind. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte, als einen ihrer Söhne zurückzulassen. Sie konnte es unmöglich schaffen, nicht mit beiden Kindern. Erneut spürte sie die schmerzhafte Unentschlossenheit, die sie damals gequält hatte.
Doch kurz darauf war ein Kolonist, einer ihrer eigenen Leute, zufällig auf das Trio gestoßen. In dem darauf folgenden verzweifelten Gerangel hatte sie den Mann von sich gestoßen und ihn mit einem gezielten Schlag außer Gefecht gesetzt. Ihr Arm war bei dem Kampf schwer verletzt worden, und es gab nicht mehr den geringsten Zweifel:
Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Sie ließ Cal, der kaum älter als ein Jahr war, im Tunnel zurück. Vorsichtig legte sie das zuckende Bündel zwischen zwei Felsen auf den steinigen Boden. Das Bild der kokonartigen Windel, die mit ihrem eigenen Blut beschmiert war, hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt. Genau wie das Geräusch, das der Junge machte, dieses Gurgeln. Sarah wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis man ihn fand und zu ihrem Mann zurückbrachte, der sich um ihn kümmern würde. Ein schwacher Trost. Danach hatte sie sich mit ihrem anderen Sohn erneut auf die Flucht begeben, und mit mehr Glück als Verstand war es ihr gelungen, den Styx zu entkommen und an die Erdoberfläche vorzudringen.
In den frühen Morgenstunden waren sie durch die High Street von Highfield marschiert, sie und ihr Sohn, ein Kleinkind, das kaum laufen gelernt hatte. Er war ihr ältestes Kind und er hieß Seth. Er war zweieinhalb Jahre alt, und er schaute sich mit weit aufgerissenen, furchterfüllten Augen um, während er die ungewohnte Umgebung in sich aufnahm.
Sarah hatte weder Geld noch irgendeinen Zufluchtsort, und es dauerte nicht lange, bis sie schmerzhaft erkannte, dass es sie große Mühe kosten würde, selbst für dieses eine verbliebene Kind zu sorgen. Zu allem Überfluss bereitete ihr der Blutverlust, den sie durch die tiefe Wunde am Arm erlitten hatte, zunehmend Schwindelgefühle.
Als sie in der Ferne Stimmen hörte, führte sie Seth von der Hauptverkehrsstraße fort und durch mehrere Seitengassen, bis sie am Ende einer Straße eine Kirche entdeckte. Sie schlichen sich in den von Unkraut überwucherten Friedhof und ließen sich auf einem moosbewachsenen Grabstein nieder. Zum ersten Mal in ihrem Leben rochen sie die kühle Nachtluft und starrten voller Ehrfurcht zum sternenübersäten Himmel hinauf. Am liebsten hätte Sarah ein paar Minuten die Augen geschlossen, nur ein paar Minuten, aber sie fürchtete, wenn sie sich zu lange ausruhte, würde sie möglicherweise nicht mehr auf die Beine kommen. Obwohl ihr schrecklich schwindlig war, sammelte sie all ihre verbliebenen Kräfte und rappelte sich auf. Sie musste einen Unterschlupf für sie beide finden und vielleicht sogar etwas zu essen und trinken.
Sie versuchte, ihrem Sohn zu erklären, was sie vorhatte, doch er wollte einfach nur mit ihr mitkommen. Armer kleiner Seth. Der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht, das herzzerreißende Unverständnis, als sie sich von ihm entfernte, war mehr, als sie ertragen konnte. Mit seinen kleinen Händen umklammerte er das Gitter, das um das größte und beeindruckendste Grabmal auf dem Friedhof angebracht war – ein Grab, auf dem seltsamerweise zwei kleine Steinfiguren eine Spitzhacke und einen Spaten schwangen. Seth rief ihr hinterher, als sie
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