Turm der Hexer
ist fast ihr ganzes Leben lang allein gewesen«, antwortete er, »und sie hatte es sehr schwer. Irgendwie habe ich immer schon gedacht, daß sie es besser verdient hätte. Vielleicht macht dies alles es ein wenig besser für sie.«
»War Aldur der gleichen Meinung?« drängte Garion. »Ich hörte seine Stimme, als ihr beide miteinander gesprochen habt.«
»Lauschen ist wirklich eine schlechte Angewohnheit, Garion.«
»Ich habe viele schlechte Angewohnheiten, Großvater.«
»Ich weiß nicht, warum du in diesem Ton mit mir sprichst, Junge«, beschwerte Belgarath sich. »Aber schön, wenn du es nun einmal so haben willst, ich mußte sehr schnell reden, um meinen Meister zu überzeugen.«
»Du hast das alles getan, weil sie dir leid tat?«
»Das ist nicht ganz der richtige Ausdruck, Garion. Sagen wir, ich habe einen gewissen Sinn für Gerechtigkeit.«
»Wenn du wußtest, daß du es sowieso tun würdest, warum hast du dann erst mit ihr gestritten?«
Belgarath zuckte die Achseln. »Ich wollte sichergehen, daß sie es auch wirklich wollte. Außerdem ist es nicht gut, die Leute glauben zu lassen, daß du alles tust, was sie wollen, nur weil du vielleicht meinst, daß sie einen gewissen Anspruch darauf haben.«
Silk starrte den alten Mann verwundert an. »Mitleid, Belgarath?«, fragte er ungläubig. »Von dir? Wenn sich das herumspricht, ist dein Ruf ruiniert.«
Belgarath wirkte plötzlich sehr verlegen. »Wir brauchen das ja nicht zu verbreiten, Silk«, sagte er. »Die Leute müssen doch nichts davon erfahren, oder?«
Garion hatte das Gefühl, als wäre auf einmal eine Tür aufgestoßen worden. Er erkannte, daß Silk recht hatte. Er hatte nie näher darüber nachgedacht, aber Belgarath stand tatsächlich in dem Ruf, unbarmherzig zu sein. Die meisten Menschen glaubten, daß dem Ewigen eine gewisse Unerbittlichkeit anhaftete die Bereitschaft, alles auf seinem eingleisigen Weg zu einem verborgenen Ziel zu opfern, das niemand je ganz verstehen konnte. Aber mit dieser einzigen Tat des Mitleids hatte er eine andere, sanftere Seite seines Wesens offenbart. Belgarath der Zauberer war doch menschlicher Gefühle fähig. Der Gedanke daran, wie diese Gefühle durch all das Grauen und das Leid, das er in siebentausend Jahren gesehen und erduldet hatte, verwundet worden waren, überfiel Garion, und er starrte seinen Großvater mit einem gänzlich neuen Respekt an. Der Rand des Sumpfes war durch einen soliden Erdwall markiert, der sich nach Norden und Süden im Nebel verlor.
»Der Damm«, sagte Silk zu Garion, auf den Wall deutend. »Er gehört zum tolnedrischen Straßennetz.«
»Bel-garath«, sagte Tupik und streckte seinen Kopf neben dem Boot aus dem Wasser, »danke.«
»Ach, ich glaube, daß ihr letztendlich sowieso sprechen gelernt hättet, Tupik«, antwortete der alte Mann. »Ihr wart schon sehr dicht dran, weißt du.«
»Viel-leicht, viel-leicht nicht«, widersprach Tupik. »Wollen reden und reden Unterschied. Nicht dasselbe.«
»Bald werdet ihr lernen zu lügen«, meinte Silk sardonisch, »und dann seid ihr so gut wie jeder Mensch.«
»Warum lernen zu sprechen, wenn doch nur lügen?« fragte Tupik verblüfft.
»Das wirst du mit der Zeit schon verstehen.«
Tupik runzelte die Stirn, dann tauchte er unter. In einiger Entfernung von dem Boot tauchte er noch einmal auf. »Auf Wiedersehen«, rief er.
»Tupik dankt euch für Mutter.« Dann verschwand er, ohne das Wasser aufzuwühlen.
»Was für ein seltsames kleines Geschöpf.« Belgarath lächelte leise. Mit einem erschreckten Ausruf durchwühlte Silk hastig seine Tasche. Etwas Hellgrünes sprang aus seiner Hand und plumpste ins Wasser.
»Was ist denn?« fragte Garion.
Silk schüttelte sich. »Das kleine Biest hat mir einen Frosch in die Tasche gesteckt.«
»Vielleicht sollte er ein Geschenk sein«, vermutete Belgarath.
»Ein Frosch?«
»Dann wohl doch nicht.« Belgarath grinste. »Es ist vielleicht etwas primitiv, aber es könnte der Anfang eines Sinns für Humor sein.« Ein paar Meilen weiter lag eine tolnedrische Herberge am großen Wall, der am Ostrand der Sümpfe von Norden nach Süden verlief. Sie erreichten sie am späten Nachmittag und erstanden dort Pferde zu einem Preis, der Silk stöhnen ließ. Am nächsten Morgen brachen sie nach Boktor auf.
Das seltsame Zwischenspiel in den Sümpfen gab Garion viel zum Nachdenken auf. Er begann zu erkennen, daß Mitleid eine Art der Liebe war weiter und umfassender als die etwas eingeschränkte Vorstellung, die er
Weitere Kostenlose Bücher