Turm der Hexer
bislang von diesem Gefühl hatte. Das Wort Liebe schien, je mehr er darüber nachdachte, eine große Anzahl von Dingen einzuschließen, die auf den ersten Blick gar nichts damit zu tun hatten. Als sein Verständnis dafür wuchs, kam ihm ein seltsamer Gedanke: Sein Großvater, der Mann, den man den Ewigen nannte, hatte in seinen siebentausend Jahren wahrscheinlich eine Liebesfähigkeit entwickelt, die andere Menschen nicht auch nur annähernd begreifen konnten. Trotz des rauhen Äußeren war Belgaraths ganzes Leben Ausdruck dieser Liebe. Beim Reiten sah Garion oft zu dem merkwürdigen alten Mann hinüber, und das Bild des entrückten, allmächtigen Zauberers, der über dem Rest der Menschheit schwebte, verblaßte allmählich. Er begann, den wahren Menschen hinter diesem Bild zu sehen sicherlich einen sehr schwierigen Mann, aber einen sehr menschlichen. Zwei Tage später erreichten sie bei klarem Wetter Boktor.
20
B oktor war eine großzügig angelegte Stadt, was Garion sofort bemerkte, als sie in seine breiten Straßen ritten. Die Häuser waren selten mehr als zwei Stockwerke hoch und standen nicht so dicht aneinandergedrängt wie in anderen Städten, die er gesehen hatte. Die Straßen waren breit und gerade, und es lag kein Abfall herum.
Er machte eine Bemerkung darüber, als sie eine große, baumgesäumte Prachtstraße entlangritten.
»Boktor ist eine neue Stadt«, erklärte Silk. »Jedenfalls ziemlich neu.«
»Ich dachte, es gäbe sie seit der Zeit von Dras Stiernacken.«
»O ja«, erwiderte Silk, »aber die alte Stadt wurde vor fünfhundert Jahren von den Angarakanern bei ihrem Einmarsch zerstört.«
»Das hatte ich vergessen«, gestand Garion.
»Nach Vo Mimbre, als es Zeit für den Wiederaufbau wurde, beschloß man, die Gelegenheit auszunutzen, ganz von vorn anfangen zu können«, fuhr Silk fort. Er blickte sich eher angewidert um. »Ich mag Boktor nicht besonders«, sagte er. »Hier gibt es nicht genug Gäßchen und Hinterhöfe. Es ist fast unmöglich, herumzulaufen, ohne gesehen zu werden.« Er wandte sich an Belgarath. »Dabei fällt mir übrigens etwas ein. Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, den Marktplatz zu umgehen. Ich bin hier ziemlich gut bekannt, und es hat keinen Sinn, die ganze Stadt wissen zu lassen, daß wir da sind.«
»Glaubst du, wir können unbemerkt durchschlüpfen?« fragte Garion.
»In Boktor?« Silk lachte. »Bestimmt nicht. Man hat uns schon mindestens ein halbes dutzendmal erkannt. Porenn wußte, daß wir kommen, noch ehe wir die Stadt betreten hatten.« Er warf einen Blick zu einem Fenster im zweiten Stock hinauf, und seine Finger zuckten einen raschen Tadel in der drasnischen Geheimsprache. Der Vorhang vor dem Fenster fiel schuldbewußt zu. »Zu plump«, stellte er mißbilligend fest. »Bestimmt ein Student im ersten Jahr.«
»Vielleicht ist er nur etwas nervös beim Anblick deiner Berühmtheit geworden«, meinte Belgarath. »Du bist schließlich so etwas wie eine Legende, Silk.«
»Das ist keine Entschuldigung für nachlässige Arbeit«, sagte Silk.
»Wenn ich Zeit hätte, würde ich an der Akademie vorbeigehen und mit dem Direktor darüber sprechen.« Er seufzte. »Mit den Leistungen der Studenten ist es bergab gegangen, seit man den Gebrauch des Schandpfahls eingestellt hat.«
»Des was?« rief Garion.
»Zu meiner Zeit wurde ein Student verprügelt, der von der Person, die er beschatten sollte, gesehen wurde«, sagte Silk.
»Prügel sind eine sehr wirksame Methode, Garion.«
Unmittelbar vor ihnen öffnete sich die Tür eines großen Hauses, und ein Dutzend uniformierter Pikenträger marschierte auf die Straße, blieb stehen und baute sich vor ihnen auf. Der befehlshabende Offizier trat vor und verbeugte sich höflich. »Prinz Kheldar«, grüßte er Silk.
»Ihre Hoheit läßt fragen, ob Ihr so gut seid und im Palast vorbeischaut.«
»Siehst du«, sagte Silk zu Garion. »Ich habe dir ja gesagt, sie weiß, daß wir hier sind.« Er wandte sich an den Offizier. »Nur aus reiner Neugierde, Hauptmann, was würdest du tun, wenn wir keine Lust hätten, im Palast vorbeizuschauen?«
»Dann müßte ich wahrscheinlich darauf bestehen«, antwortete der Hauptmann.
»Das hatte ich mir fast gedacht.«
»Stehen wir unter Arrest?« fragte Garion nervös.
»Nicht ganz, Eure Majestät«, erwiderte der Hauptmann.
»Aber Königin Porenn wünscht dringend mit euch zu sprechen.« Dann verbeugte er sich vor Belgarath. »Uralter«, grüßte er den alten Mann respektvoll. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher