Turm der Lügen
glücklich darüber.«
In grenzenlosem Vertrauen hob sie den Blick zu ihm. Sie schien zu spüren, dass er etwas auf dem Herzen hatte und nicht die richtigen Worte fand.
»Wolltest du wirklich nur über deine Mutter sprechen?«, fragte sie sanft.
»Würdest du nicht gerne leben wie sie? Die Herrin eines eigenen Hausstandes sein? Einen Mann und Kinder haben? Loup verlassen und nie wieder sein betrunkenes Gebrabbel hören müssen?«
»Loup verlassen hieße Faucheville verlassen. Nie will ich das.« Vehemente Ablehnung färbte ihre Worte. »Außerdem brauche ich keinen Mann. Ich habe doch dich.«
Die Unschuld dieser Antwort wurde lediglich von der Naivität ihrer Weltsicht übertroffen. Beides zwang ihm einen Entschluss auf. Er würde ihr Vertrauen einer Zerreißprobe unterziehen und dafür sorgen, dass ihr Gerechtigkeit widerfuhr. Sie würde ihre gewohnte Umgebung verlassen und ein völlig neues Leben beginnen müssen.
Ein Plan, der auf Widerstand stoßen würde. Vonseiten Séverines ebenso wie vonseiten seines Vaters. Wie gut, dass der Faucheville noch seltener besuchte. Ob er den Anblick des Mädchens scheute, das er hier um sein Leben betrog, weil Mahaut es so beschlossen hatte?
Die Versäumnisse, die bei Séverines Erziehung gemacht worden waren, zu korrigieren, stellte allerdings ein schweres Stück Arbeit dar. Allein, wer sollte diese Aufgabe übernehmen? Wer besaß sowohl die Geduld wie die Fähigkeit dazu?
»Mir gefällt nicht, was du denkst«, sagte Séverine mit ihrem unfehlbaren Gespür für das, was in ihm vorging. Den Kopf eine Spur zur Seite geneigt, die goldbraunen Augen halb von den Lidern bedeckt, glich sie so sehr ihrer ältesten Schwester, dass sich Adrien die Lösung des Problems mit einem Schlag aufdrängte.
Jeanne. Jeanne von Burgund. Wenn es einen Menschen in diesem Königreich gab, der es wagte, der eigenen Mutter die Stirn zu bieten, dann war sie es. Bestärkt von Philippe an ihrer Seite, ihrem Mann, dem Königssohn, war sie die Einzige, die Mahaut von Artois in ihre Schranken weisen konnte. Ihre Güte, ihre Mildtätigkeit und ihr angenehmes Wesen trugen ihr allgemeine Sympathie ein. Wieso war ihm die bestechende Ähnlichkeit zwischen Jeanne und Séverine nie zuvor aufgefallen?
»Was hast du vor?«, hörte er Séverine eine Spur drängender fragen. Sie spürte, dass er schwieg, weil ihr seine Antwort nicht gefallen würde.
»Gemeinsam mit dir zu Antares zu gehen«, lenkte er sie ab.
Sie akzeptierte die Ausrede mit der Ergebenheit, die sie ihm stets entgegengebracht hatte. Wenn er seine Gedanken für sich behalten wollte, dann respektierte sie das, auch wenn sie sie noch so gerne gekannt hätte.
Obwohl er sich darüber im Klaren war, dass er mit der Geduld eines Jägers auf der Pirsch vorgehen musste, gefiel ihm sein Vorsatz auf Anhieb. Was konnte befriedigender sein, als Séverine zu ihrem Recht zu verhelfen? Gleichzeitig würde es das nagende Schuldgefühl lindern, das ihn immer stärker quälte. Was hatte ihn so lange davon abgehalten, Séverines Partei zu ergreifen? Ichsucht? Respekt vor dem Vater? Gedankenlosigkeit? Wie hatte er dieses Unrecht über Jahre hinweg dulden können?
Gleichzeitig bot er Jeanne eine Aufgabe, die ihr gefallen würde, und zwang Mahaut von Artois, für eine Schurkerei geradezustehen, die sie längst vergessen glaubte. Zuvor musste er jedoch genauer darüber nachdenken, wie sein Plan in die Tat umzusetzen war.
* * *
Die Reiter preschten am Obstgarten vorbei. Unter den Hufen der Pferde spritzte der Schlamm, die Hunde hechelten kläffend hinterher.
Niemand warf einen einzigen Blick auf die Apfelbäume, wo Séverine, im frischen Laub verborgen, auf einem Ast kauerte. Mit ungewohnt ernster Miene blickte sie den Jägern nach.
Adrien hatte strikt untersagt, dass sie ihn auf dieser Jagd begleitete. Dass sie in den vergangenen Jahren in diesem Wald mehr Hasen und Fasane erlegt hatte als er … hatte ihn nur in seiner Haltung bestärkt.
»Wenn du einmal jagst, dann wirst du es mit dem Falken tun, wie es sich für eine Dame gehört. Pfeil und Bogen gehören der Vergangenheit an«, hatte er gesagt.
Sie wiederholte im Stillen Adriens Aussage, ohne sie enträtseln zu können. Sie war keine Dame. Sie war die Tochter eines Waffenknechtes und einer Kammerfrau. So sehr sie Adrien von Flavy bewunderte, schätzte und liebte, sie wusste, dass nur der Umstand, dass sie in Faucheville lebte und zu seinen Leuten zählte, ihr einen Platz in seinem Leben sicherte. Weil
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