Turm der Lügen
keine Fragen, sondern lief neben ihm her. Die Plattform des Torturmes erreichte sie jedoch vor ihm, denn sie hatte wie gewohnt immer zwei Stufen auf einmal genommen. Sie barst förmlich vor Unternehmungslust.
Sie ist wie eine Quelle, die sich zwischen Felsen und Moos gegen alle Hindernisse ihren Weg bahnt,
ging es Adrien durch den Kopf.
Was ist sie doch für ein lebendiges Wesen.
Unter freiem Himmel, in dem ein Schwarm von Schwalben seine Kreise zog, breitete sie die Arme aus und deutete über die Felder zum Waldrand hinüber. »Pierrot, der Jäger, hat mir gesagt, dass er auf der Lichtung beim Römerhügel junge Füchse gesehen hat. Willst du mit mir kommen, sie beobachten?«
»Bist du eigentlich je im Haus?«, antwortete er mit einer Gegenfrage, die Séverine kurz verwirrte.
»Natürlich bin ich das. Wenn Elvire meine Hilfe braucht, gehe ich ihr in der Küche zur Hand.«
»Und in der großen Halle?«
»Was sollte ich da tun?«
»Was Frauen eben machen. Sticken, spinnen, weben, nähen, miteinander plaudern und die Mägde beaufsichtigen. Was ein Hausstand so erfordert.«
Séverine gluckste vor Vergnügen. »Damit hab’ ich nichts zu schaffen. Zum Glück. Ich habe wenig Geschick für Nadelarbeiten, und beim Spinnen reißt immer wieder mein Faden. Ich bin lieber im Stall oder im Küchengarten. Oder beim Beerensuchen. Warte nur, bis du siehst, wie viele Erdbeeren ich gefunden habe.«
Er dachte nach, während er ihrem Geplauder lauschte. Mit sechzehn war sie im besten Heiratsalter. Aber wer sollte sie heiraten? Ein Bauer, ein Handwerker, ein Kriegsknecht? Undenkbar, bei ihrer Herkunft. Aber auch ein Ritter, ein Hofbeamter oder ein ländlicher Würdenträger würde sie als Braut nicht heimführen und sie zur Mutter seiner Kinder machen wollen. Sie erwarteten eine wohlerzogene, gehorsame und fromme Jungfer, die ihrem Hauswesen vorstand und ihnen ein Zuhause bereitete, in dem sich alle wohl fühlten. Séverine besaß augenscheinlich nicht eine einzige der Eigenschaften, die dafür erforderlich waren.
»Hast du je über deine Zukunft nachgedacht?«, rutschte es ihm heraus. »Wie stellst du dir dein Leben vor?«
Séverine unterbrach ihren munteren Redeschwall, der sie über die Erdbeeren zur bevorstehenden Kirschenernte und zum Pferdemarkt in Étampes gebracht hatte. Verblüfft drehte sie das lockige Ende ihres Zopfes um den Zeigefinger, um Zeit zu gewinnen.
»Mein Leben?« wiederholte sie. »Mein Leben ist Faucheville. Elvire meint, ich soll irgendwann ihre Nachfolgerin werden, aber das gefällt mir nicht so. Lieber würd ich dem Stallmeister zur Hand gehen und mich um die Pferde kümmern. Er sagt, ich habe eine gute Hand mit den Tieren. Auch weiß ich viel besser als er, was ihnen fehlt, wenn sie nicht fressen wollen oder Koliken bekommen.«
»Du bist kein Stallknecht«, widersprach Adrien. »Und die Arbeit einer Köchin ist viel zu schwer für eine halbe Portion wie dich.«
Séverine schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Zopf wieder nach hinten flog. »Ich habe sehr wohl Kraft. Ich kann deinen Sattel so gut heben wie jeder Stallknecht. Außerdem weiß ich so gut wie Elvire, welche Menge Getreideschrot in eine vernünftige Grütze gehört, und kann mit schweren Töpfen und Kesseln bestens hantieren.«
»Es kann nicht immer nach deinem Kopf gehen«, wandte Adrien ein. Die unbeschwerte Selbstsicherheit, mit der sie die eigenen Fähigkeiten anpries, zeigte ihm, dass sich niemand nach dem Tod seiner Mutter die Mühe gemacht hatte, Einfluss auf sie zu nehmen.
»Denkst du noch an meine Mutter?«, fragte er schließlich.
»An die Baronin Amicia? Aber sicher. Zu jedem Feiertag lege ich einen Wiesenstrauß auf ihr Grab. Ich schließe sie täglich in meine Gebete ein.«
Adrien gratulierte sich zu seinem Einfall. Im Gedenken an seine Mutter würde sie seine Einwände ernster nehmen.
»Sie hätte nicht gewünscht, dass du ein Pferdeknecht wirst oder deine Tage in der Küche zubringst. Sie liebte dich wie eine Tochter.«
»Aber ich bin nicht ihre Tochter«, antwortete Séverine nüchtern. »Ich ehre ihr Andenken, und auch ich liebte sie sehr, wie du weißt. Ihre Kleider fühlten sich stets weich und wundervoll an und dufteten nach Blüten, wenn sie mich in den Arm nahm. Ich war noch sehr jung, als sie starb, aber ich erinnere mich an alles.«
»Wenig über neun Jahre«, nickte Adrien.
»Du hast mich getröstet.« Dankbarkeit schimmerte in Séverines Augen. »Du warst immer für mich da, bis heute. Ich bin
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