Turm der Lügen
erwiderte er. Aber noch während er sprach, sah er, dass sie nicht begriff, was er sagen wollte. »Stört es dich nicht, dass du die Kleider einer Magd trägst?«
»Ich bin eine Magd.«
»Das bist du nicht!«
Séverine stieß einen überraschten Laut aus, als Adrien ihre Oberarme mit festem Griff umspannte und sie schüttelte. »Mein Vater, Loup und die Umstände haben dich in dieses Leben versetzt, aber es ist nicht das deine. Du verdienst Besseres. Eine Zukunft, einen Mann, ein Leben, das deinem Rang entspricht.«
»Meinem Rang? Was redest du?«
Gebannt vom Zorn, der aus seinen Worten sprach, starrte Séverine ihn an. Das Bild von Adrien, das sie über all die Jahre hinweg in ihrem Herzen getragen hatte, entsprach nicht mehr der Wirklichkeit. Der Freund ihrer Kindertage war ein Mann geworden. Beeindruckend, aber auch einschüchternd, gebieterisch und dem Widerspruch entgegentretend. Das blonde Haar war nicht mehr so hell wie noch vor Jahren, um die tiefblauen Augen und von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln zogen sich Spuren strenger Falten. Zum ersten Male wich sie eingeschüchtert vor ihm zurück.
»Du kannst nicht in Faucheville bleiben«, kam er auf direktem Wege zur Sache.
»Ich soll fort?« Sie riss sich vollends aus seinem Griff. »Faucheville ist mein Zuhause. Ich kenne kein anderes und ich will auch kein anderes. Warum tust du mir das an? Was habe ich getan?«
»Du musst die Regeln eines richtigen Frauenlebens lernen. Du hast aufgrund deiner Herkunft ein angeborenes Recht auf ein Dasein, das deiner Geburt entspricht. Beruhige dich, Séverine, und vertraue mir. Was geschieht, ist zu deinem Besten. Ich gebe dir mein Wort: Es geht um deine Zukunft.«
Sie zwang sich dazu, seine Worte genau zu überdenken, ehe sie antwortete. Nie hatte er ihr Grund gegeben, ihm zu misstrauen.
An der Haltung ihrer Schultern konnte er bereits erkennen, dass sie nachgab, noch ehe sie nickte. »Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst, auch wenn ich nicht verstehe, warum ich nicht in Faucheville bleiben darf. Wird mein Vater mich denn überhaupt gehen lassen?«
»Mach dir da keine Sorgen.« Adrien entschied sich, nicht mit Lügen auszuweichen. »Er hat kein Recht, über dein Leben zu bestimmen. Er hat seine Pflicht getan, und er hat sie nicht einmal gut getan.«
»Was willst du damit sagen?« Argwohn schimmerte in ihren Augen.
»Loup ist nicht dein leiblicher Vater. Lediglich um neugierige Fragen zu vermeiden, wurde er dazu bestimmt.«
»Dann ist er also im Recht, wenn er mich Kuckucksei nennt?«
Der bedrückte Unterton reizte Adrien und schärfte seinen Ton.
»Vergiss Loup Gasnay. Er hat das Vertrauen enttäuscht, das mein Vater in ihn gesetzt hat.«
»Und meine Mutter? War Loups Frau überhaupt meine Mutter, wenn er nicht mein Vater ist?«
Was konnte er antworten, ohne den Schwur zu verraten, den er vor sechzehn Jahren geleistet hatte? Keine Lüge. Die Zeit der Lügen war zu Ende.
»Nein.« Adrien griff nach ihren Händen und drückte sie sanft. »Bitte stell mir keine weiteren Fragen, ich müsste dich nur enttäuschen. Ich kann sie nicht beantworten, denn ein Eid bindet mich. Ich muss dich um dein Vertrauen und deinen Gehorsam bitten. Doch ich schwöre dir, du sollst es nicht bereuen.«
Séverine war zu verwirrt, um weiter zu insistieren. Ihr ganzes Dasein wurde mit einem Schlag auf den Kopf gestellt. »Ich will dir vertrauen, Adrien. Aber ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll. Du versprichst mir eine Zukunft und nimmst mir gleichzeitig den Vater, die Mutter und den Namen. Wer bin ich?«
»Séverine. Meine Séverine.«
Es klang traurig und beruhigend zugleich. Er nahm sie in den Arm. Augenblicklich fühlte sie sich getröstet. Neuer Mut erfüllte sie. Vielleicht war gar nicht Faucheville ihre Kraftquelle, sondern Adrien. Wenn sie bei ihm bleiben konnte, würde alles gut sein.
»Wirst du mir helfen, all das Neue zu ertragen? Wirst du bei mir sein und meine Schritte begleiten?«
»Du hast mein Wort.«
* * *
Das Holzgestell am Sattel war mit Leder verkleidet, die Decke trug das Wappen der Seigneurs von Flavy. Séverine rutschte unruhig auf der gepolsterten Fläche hin und her, während sie mit der Fußspitze nach dem Steigbügel suchte. Es war ihr ein Rätsel, warum sie auf diese unbequeme Weise reiten sollte, wenn es doch viel leichter war, aufzusitzen wie es auch die Männer taten. Aber Adrien hatte nicht mit sich reden lassen. Er wollte weder etwas davon hören, dass sie wie ein Junge
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