Turm der Lügen
ritt, noch dass sie sich jemals wieder wie einer kleidete. Das Wort Gehorsam kam ihm neuerdings etwas zu oft über die Lippen, fand Séverine. Dennoch protestierte sie nicht. Sie hatte Gehorsam versprochen.
Sie reckte die Schultern gerade und drückte den Rücken durch. Aus den Augenwinkeln sah sie Elvire, die sich mit der Schürze die Tränen wischte. Manon stand mit einer Miene neben ihrer Mutter, als habe sie zum Frühstück Senfkörner in der Mandelmilch gefunden. Beide verstanden nicht, warum Adrien Séverine mit sich nahm. Manon stand der Neid ins Gesicht geschrieben, Elvire der Trennungsschmerz.
Auch Séverine war den Tränen nahe. Angst saß ihr im Nacken. Die Umrisse der Menschen von Faucheville, die ihrem Herrn und seiner Begleiterin gute Reise wünschten, verschwammen ihr vor den Augen. Sie wagte nicht, sich umzusehen, während die Hufe der Pferde über die Zugbrücke polterten. Den Blick starr auf die beiden Ohren ihres Pferdes gerichtet, folgte sie Adrien, der in mäßigem Tempo vorausritt.
Er spürte, welchen Kampf sie mit sich austrug. Seit zwei Tagen hatte sie nicht mehr gelacht. Wie ein Häufchen Elend mutete sie ihn an. Wenn er sie mit seiner Entscheidung brechen würde, könnte er es sich nicht verzeihen.
In seine Gedanken versunken, entging ihm, dass sie zusehends aus ihrer Erstarrung erwachte. Der morgendliche Regenguss, der ihren Aufbruch verzögert hatte, war drückender Schwüle gewichen. Der Horizont verschwamm, und das frische Grün wurde von Dunstschleiern gedämpft. Jeder Atemzug beschwerte die Lungen. Dennoch, gefesselt von den neuen Eindrücken, verdrängte Séverine den Abschiedsschmerz und die Unbequemlichkeit des Damensattels. Sie hatte nicht geahnt, dass die Wälder des Königs so endlos waren, die Bäche und Flüsse so zahlreich, die Dörfer so abwechslungsreich.
Bis zur Mittagsrast hatte Séverine ihr fröhliches Gleichgewicht wiedergefunden. Voller Appetit grub sie die Zähne in Elvires Brot und warf dem kleinen Zaunkönig, der sie vom untersten Ast einer Buche beäugte, ein paar Krumen hin. »Iss, mein Freund. Du siehst so verhungert aus wie die Bewohner des Dorfes, das wir am Fluss hinter uns gelassen haben.«
»Die Ernte des vergangenen Jahres war in der ganzen Provinz schlecht«, bemerkte Adrien. »Wer keine Vorsorge getroffen hat, büßt jetzt dafür.«
»Was ist mit ihrem Lehnsherrn? Wenn es in Faucheville knapp zugeht, gibt der Vogt Getreide aus.«
»Auch Faucheville leidet unter den Missernten, und nicht nur darunter«, entgegnete Adrien. »Die Schatztruhen des Königs sind leer, und die Krone hält sich schadlos an den Rittern. Steuern und Sonderabgaben häufen sich. Jeder Ritter, der nicht eine bestimmte Anzahl Bewaffneter für den König stellen kann, muss stattdessen eine Ablöse zahlen. Auch mein Vater war dazu gezwungen. Das Gold wird uns fehlen, zumal bereits abzusehen ist, dass auch die Ernte dieses Jahres aufgrund des Regens geringer ausfallen wird.«
»Aber warum müssen Bewaffnete gestellt werden, wir führen doch keinen Krieg.«
»Wenn es nach dem Thronfolger geht, wird sich das bald ändern. Er versucht, seinen Vater mit allen Mitteln davon zu überzeugen, dass Flandern endgültig unterworfen werden muss. Sollte er sich bei ihm durchsetzen …«
»Müsstest auch du in die Schlacht ziehen und kämpfen, Adrien?«
»Noch ist es nicht so weit, Séverine. Vergiss, was ich gesagt habe. Iss auf, ich möchte die Stadt vor Sonnenuntergang erreichen, damit du sie gleich in ihrer ganzen Pracht erblickst. Paris ist überwältigend, du wirst sehen, dass ich dir nicht zu viel verspreche.«
Schon bald veränderte sich die Landschaft. Die Wälder wichen zugunsten bebauter Felder zurück, die Pfade wurden zu Wegen und schließlich zu einer richtigen Landstraße. Reiter, Karren, Lastenträger, Bewaffnete, Handwerker und Bauern machten sich gegenseitig den Platz streitig. Geschrei, Räderknarren und Pferdegetrappel vereinten sich zu einem Lärm, wie Séverine ihn nicht kannte. Glücklicherweise verhinderte die hohe Luftfeuchtigkeit, dass der Staub über Pferdehöhe stieg.
Wo zunächst Adriens mächtiger Destrier noch dafür sorgte, dass man ihnen respektvoll auswich, wurden Ross und Reiter im Gedränge vor dem Stadttor des heiligen Honoré doch gezwungen, sich einzuordnen. Adrien griff Séverine in die Zügel. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie abgedrängt wurde. Seit der gezackte Saum der Türme und Dächer von Paris, von einem Ende des Horizonts zum anderen sich
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