Turm der Lügen
Mauern nur bei offiziellen Anlässen zum Tragen.
»Ich bin mit der Hoffnung zu Euch gekommen, dass Ihr mir helft, ein Unrecht zu sühnen, das vor fast sechzehn Jahren an einem unschuldigen Kind begangen wurde«, begann er. Die komplizierte Sachlage in schlichte Worte zu fassen, entpuppte sich als mühsam. »Ein Eid gebietet mir Schweigen zu Namen und Umständen, aber ich kann Euch versichern, dass das Kind, das ich auf meinen eigenen Armen nach Faucheville gebracht habe, edelstes Blut in seinen Adern hat. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass auch ich den vollen Umfang des Verbrechens erst jetzt erfasst habe. Der Schleier des Vergessens soll über ein Menschenleben gebreitet werden, das solches nicht verdient. Séverine Gasnay ist mir in all den Jahren lieb geworden wie eine Schwester. Ich darf nicht zulassen, dass ihre Zukunft in der Küche von Faucheville endet.«
»Ihr wollt sie stattdessen als Magd in meinem Haushalt unterbringen?« Jeanne ahnte, in welche Richtung seine Bitte zielte.
»Verzeiht. Nicht als Magd.«
Sie hob kaum merklich die Brauen und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, um ihr Erstaunen auszudrücken. Adrien erkannte die Bewegung wieder. Auch Séverine reagierte auf diese Weise, wenn sie nicht mit seinen Worten einverstanden war und sich fragte, wie sie ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen konnte, ohne ihn zu kränken.
»Lernt sie kennen und bildet Euch Eure eigene Meinung über Séverine«, bat er mit so viel Gefühl in der Stimme, dass Jeanne stutzig wurde. »Sie versteht es, Menschen für sich einzunehmen. Ich bin sicher, dass sie Euch Gefährtin, Zeitvertreib, Aufgabe und Herausforderung zugleich sein könnte. Allein Ihr könnt das Edelfräulein in ihr wecken, das sie von Geburt an hätte sein sollen. Reizt es Euch nicht, auf solche Weise Schicksal zu spielen?«
Jeanne, stets ein Spielball der Launen ihrer Mutter, von ihrer übermütigen Schwester und ihrer herrschsüchtigen Kusine ausgenützt, konnte dem geschickt dargebotenen Köder nicht widerstehen. Adrien kannte sie zu gut.
»Lasst mich das Mädchen sehen«, befahl sie knapp. »Ich will mit ihm sprechen, ehe ich eine Entscheidung treffe.«
Séverine hatte wartend verharrt, immer noch in der gleichen Position.
»Madame von Poitiers wünscht dich zu sehen«, gab Adrien ihr leise zu verstehen, damit die Wachposten seine Worte nicht hören konnten. »Sie ist dir wohlgesinnt. Sei beruhigt und vergiss nicht, was du mir versprochen hast.«
Voll der besten Vorsätze sprang Séverine ohne Zögern auf. Die Wartezeit hatte ihr geholfen, das Erlebte zu verarbeiten. Die steinerne Reglosigkeit der Türwachen hatte sogar ihren Sinn für Schabernack geweckt. Sie hatte darüber nachgedacht, was passieren müsste, damit diese Statuen zum Leben erwachten. Sie folgte Adrien zu Jeanne von Burgund, die neben dem Fenster saß und ihnen entgegenblickte. Der Raum war riesig und der Weg lang genug, damit auch sie die Frau betrachten konnte, unter deren Dach sie wohnen sollte.
Die Gräfin von Poitiers und Schwiegertochter des Königs war jung und schön. Ein weichfließendes, silbernes Kleid fiel einer Kaskade gleich auf ihre Fußspitzen. Die rotblonden Haare wurden von einem komplizierten Silbernetz im Nacken gehalten. Ihre feingliedrigen Hände im Schoß gefaltet, wartete sie ruhig. Obwohl sie die Andeutung eines Lächelns in den Mundwinkeln trug, sah Séverine ihr an, dass sie nicht glücklich war.
Sie sank vor Jeanne in die Knie, und ehe Adrien die ersten Worte fand, trafen sich ihre Blicke. Mitgefühl für die Gräfin und eine überraschende Vertrautheit stellten sich spontan bei Séverine ein. Jeanne würde ihr nichts Böses wollen, spürte sie unvermittelt intuitiv.
»Du musst nicht vor mir knien, Séverine«, waren die ersten Worte, die die Gräfin an sie richtete. »Ich bin keine Königin. Es genügt, wenn du mir Reverenz erweist und schweigend wartest, bis ich dich anspreche.«
Adrien unterdrückte ein Schmunzeln. Es schien zu klappen.
Séverine fasste wieder Mut und ihr Temperament brach sich Bahn.
»Wie soll ich Euch denn sagen, dass ich Euch gern dienen will, wenn ich schweigen muss?«, antwortete sie.
»Bist du sicher, dass du das wirklich willst?«
Séverine hielt kurz inne. »Oh ja, Madame, das will ich.«
Der ernst und ausdrucksvoll vorgebrachte Wunsch entwaffnete Jeanne. Séverine mochte den Kittel eines Landmädchens tragen, den armdicken Zopf mit einem schlichten Kopftuch bedeckt und keine Ahnung von den Manieren des Adels
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