Turm der Lügen
nieder.
Kein Wort würde sie über die Lippen bringen. Was sollte sie tun? Nach Faucheville fliehen? Aber wie? Allein? Unmöglich.
Es gab nur einen Menschen, der ihr raten konnte. Adrien. Er hatte versprochen zu helfen, wenn sie in Not geriet. Sie war in Not. In höchster Not.
Wo würde sie ihn finden? Bei Philippe, im Palast des Königs? Jeanne hatte ihr einmal gesagt, dass sich die diensttuenden Ritter und Beamten Seiner Majestät normalerweise im
Salle des gardes
zur Verfügung hielten. Ihr Begleiter musste sie dort hinbringen. Er hatte Befehl nicht von ihrer Seite zu weichen. Alles Weitere würde Adrien bestimmen. Allein seinen Namen zu murmeln beruhigte sie und schenkte ihr neuen Mut.
Allmählich konnte sie einen klaren Gedanken fassen.
* * *
Séverines Leibwächter stand noch dort, wo sie ihn verlassen hatte.
»Ich muss auf der Stelle in den Palast des Königs, in den
Salle des gardes,
um einen Edelmann zu sprechen, der dem Grafen Philippe dient.«
Verblüfft sah der Mann sie an. »Ich habe nur den Auftrag, Euch zum
Tour de Nesle
zu bringen, Demoiselle. Meine Befehle muss ich strikt einhalten. Eure Bitte ist gegen die Anordnung der Gräfin.«
»Gut, dann gehe ich eben allein dorthin. Ich glaube, Ihr werdet große Schwierigkeiten bekommen, wenn Ihr ohne mich zurückkehrt.«
Sie unbewacht zu lassen war ausgeschlossen. Da sie jedoch den Eindruck machte, als ließe sie sich von nichts aufhalten, entschied er schließlich widerstrebend, ihr zu gehorchen.
Der Weg zur
Petit Pont
führte am Fluss entlang und war leicht zu finden. Ein erster Anflug von Dämmerung legte sich über die Stadt. Vereinzelte Fackeln flammten auf. Séverine schenkte dieses Mal weder dem schwindenden Licht noch den Menschen Beachtung.
Das Bild der treulosen Schwiegertöchter des Königs verfolgte sie hartnäckig. Seit dem Tod der Königin war der König sittenstreng und fromm geworden. Welche Strafe erwartete die Ehebrecherinnen? Und was würde mit ihr geschehen? Sie war Zeugin des ungeheuerlichen Vergehens geworden. Zeugen lebten gefährlich, das wusste sogar in Faucheville jedes Kind.
Als Séverine Adrien im Königspalast den Weg vertrat, wollte er seinen Augen nicht trauen. Saß er einem Trugbild auf? Es konnte unmöglich Séverine sein, die da zwischen all den Edelmännern, Soldaten, königlichen Ministerialen und Bittstellern auftauchte. Frauen waren ohnehin ein seltener Anblick in der
Salle des gardes;
sie hier zu sehen versetzte ihm förmlich einen Schock.
»Adrien.«
Ihre Stimme brach den Bann. Sie war es wirklich! Spürte sie etwa, feinfühlig wie sie war, dass er zu jeder Stunde des Tages an sie dachte? Ihre Verwandlung vom Landmädchen zur Edeldame, die Jeanne so meisterlich bewerkstelligt hatte, raubte ihm die gewohnte Ruhe.
»Was tust du hier um Himmels willen? Was ist geschehen?« Er sah sich schnell um, entdeckte Philippes Wappen auf dem Wams des Leibwächters, gab ihm ein Zeichen zu warten, und zog Séverine hastig in eine Fensternische. »Du solltest nicht hier sein. Ich sagte dir doch, du kannst jederzeit nach mir schicken, wenn du mich sprechen willst.«
»Mir blieb keine andere Wahl«, antwortete sie und fasste nach seinen Händen. »Ich brauche deine Hilfe. Ich kann nicht zu Jeanne zurückkehren. Kennst du einen Ort, an dem uns niemand belauscht?«
Adrien erfasste, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Nie zuvor hatte er sie so verzweifelt erlebt.
»Komm mit«, befahl er knapp.
Er war sich der Blicke, die ihnen neugierig folgten, bewusst. Eine verfängliche Geste, und der Hofklatsch fände in ihnen sein neuestes Opfer. So weit durfte er es keinesfalls kommen lassen. Je eher er sie fortbrachte, umso besser. Zumal auch ihre Familienähnlichkeit in den vergangenen Monaten immer deutlicher zutage getreten war. Dass zu allem Überfluss am Kopfende des Saales sein Vater erschien, zwang ihn zu noch größerer Eile. Nicht auszudenken, was geschah, wenn Hugec von Flavy sein aufgezwungenes Mündel im Palast des Königs an der Seite seines Sohnes entdeckte. Adrien verstellte dem Baron die Sicht auf Séverine und deutete auf eine Bogenpforte zu seiner Rechten.
»Hier entlang. Schnell.«
Daran, dass Séverine widerspruchslos tat, was er sagte, vermochte er den Grad ihrer Erschütterung abzulesen. Was hatte sie in diese Verfassung gebracht?
Die Gärten des Schlosses, an der Spitze der Insel, waren um diese Jahres- und Tageszeit leer und kahl. Sie allein
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