Turm der Lügen
ihre Zurückgezogenheit respektiert wird«, beharrte die Kammerfrau auf ihrer Ablehnung. »Lasst Euch gewarnt sein. Sie straft Ungehorsam empfindlich.«
»Ich habe einen dringenden Auftrag, den ich erfüllen muss«, erwiderte Séverine ruhig. »Ich bin sicher, die Königin wird dafür Verständnis aufbringen.«
Der Ton wurde gereizter, aber schließlich wies ihr die Kammerfrau den Weg.
»Am besten erwähnt Ihr nicht, dass Ihr mit mir gesprochen habt. Geht die Wendeltreppe hinauf. Im ersten Stock findet Ihr ein Turmgemach, in dem sich die Königin meist aufhält. Die Gräfin von Marche leistet ihr Gesellschaft.«
Die Gräfin von Marche: Blanche. Damit war ihr Auftrag eigentlich erfüllt. Sie hätte nach Hause gehen können und Jeanne die gewünschte Auskunft bringen. Sie zögerte einen Moment, doch dann entschied sie, Blanche den Brief persönlich zu überreichen.
Die Kammerfrau öffnete ihr die unbewachte Pforte und schloss sie sorgfältig hinter ihr. Nach dem Tumult der Stadt war die Stille innerhalb der Mauern fast unheimlich. Es war dunkel. Lediglich kleine Öllampen in Wandnischen erleuchteten den Weg nach oben.
Was gefiel Marguerite daran, in diesem kahlen, abweisenden Turm zu hausen? Er konnte seine Vergangenheit als Kerker nicht verleugnen.
Den Umhang fröstelnd um die Schultern ziehend, stieg Séverine die ausgetretenen Stufen hinauf. In regelmäßigen Abständen befanden sich handbreite Luftschlitze im Mauerwerk, durch die schneidender Wind pfiff. Bis sie den quadratischen Treppenabsatz erreichte und vor einer geschlossenen, bogenförmigen Holztür stand, zitterte sie vor Kälte. Sie rieb sich die Hände, ehe sie klopfte, um auf sich aufmerksam zu machen.
Sie erhielt keine Antwort. Vermutlich war die Tür ebenso dick wie die Wand. Langsam und lautlos betätigte sie das Schloss. So plump und barbarisch der
Tour de Nesle
war, seine Schlösser schienen gut gefettet. Auch die Angeln gaben kein Geräusch von sich, als sie die Tür vorsichtig einen Spalt aufdrückte und hineinsah.
Eine Duftwolke und behagliche Wärme schlugen ihr entgegen. Gegenüber der Tür brannte in einem Kamin ein loderndes Feuer. Die Lichtreflexe der Flammen tanzten über Teppiche und polierte Holzbohlen. Die Wände waren mit prächtigen Stoffen bespannt. Die hohe Decke des Raumes wurde von schlanken Steinsäulen getragen. Séverine trat über die Schwelle.
Nach zwei vorsichtigen Schritten blieb sie wie versteinert stehen.
Ein Alkoven mit offenen Vorhängen nahm den größten Teil des Raumes ein. Vom Feuer bestrahlt und von beiden Seiten mit Honigwachskerzen beleuchtet, die in mannshohen Eisenständern brannten, lag in Licht und ungezähmten Locken gebadet ein Paar auf Decken und Pelzen. Beide trugen keinen Faden am Leib. Wie Adam und Eva im Paradies hatten sie nur Augen füreinander.
Marguerite. Sie stützte sich mit einem gurrenden Laut auf der Brust des Mannes ab und saß mit gespreizten Beinen über seinem Unterleib. Die muskulösen Beine, die kräftigen Arme, von hellem Haarflaum bedeckt, verrieten Séverine, dass es sich unmöglich um Louis den Zänker handeln konnte. Braune Hände mit kräftigen Fingern umfingen Marguerites Taille und steuerten ihre Bewegung.
Ein Lachen lenkte Séverines Blick am Bett vorbei zu einer gepolsterten Bank. Es war Blanches Lachen und es galt dem Mann, auf dessen Schoß Jeannes Schwester saß, das Gewand bis zur Taille herabgestreift. Als wäre er ein Kind, saugte er an ihrer Brust. Unruhig die Hüften bewegend, stachelte sie seine Lust an und wühlte ihm dabei im schulterlangen blonden Haar.
Goldblondes Haar, nicht jenes helle Gerstenblond, das Charles von Marche von seinem Vater geerbt hatte. Auch war er breiter und athletischer als Charles.
Ein lustvoller Aufschrei Marguerites riss Séverine aus ihrer Erstarrung. Hastig wich sie zurück und schloss die Tür mit angehaltenem Atem.
Einen Augenblick lauschte sie. Die Geräusche des Liebesaktes drangen auf den Treppenabsatz nicht hinaus. Sie wandte sich um und stürmte blindlings die Stufen hinab. Sie war ungewollt Zeugin von Ehebruch und verbotenen Begierden geworden. Die Schamlosigkeit der Szene brannte wie Säure in ihren Augäpfeln. Wer waren die Männer, die es wagten, die Söhne des Königs dermaßen zu beleidigen? Hinter ihren Schläfen hämmerte die nackte Angst. Die Vorstellung, Jeanne von der frevelhaften Tat berichten zu müssen, war unerträglich. Mit zitternden Knien sank sie auf der untersten Stufe vor der geschlossenen Pforte
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