Turm der Lügen
Séverine vermutete, dass es ihm weniger um eine Liebesgabe zu tun gewesen war als darum, die Nörgeleien seiner Frau zu beenden.
Die Brücke der Wechsler, dicht an dicht mit Häusern bebaut und so eng, dass man kaum den Himmel zwischen den Dachzeilen erkennen konnte, glich einem Tunnel. Die Staub- und Dreckschicht auf der Straße war trocken, da es seit einigen Tagen nicht mehr geregnet hatte.
Die Goldschmiede in ihren Werkstätten, deren Läden sperrangelweit offenstanden, waren auf zusätzliches Lampenlicht angewiesen, um ihre Arbeit zu tun. Neugierig blieb Séverine stehen. Einer der Handwerker war damit beschäftigt, hauchfeinen Golddraht in immer kunstvollere Spiralen zu drehen. Der Reif, der unter seiner Hand entstand, entzückte sie so sehr, dass sie stehen blieb und kaum den Blick abwenden konnte.
Das Wappen auf dem Wams ihres Wächters verschuf ihnen den Respekt der Menschen. Auch der Goldschmiedemeister machte eine höfliche Verneigung in ihre Richtung. Verlegen wich Séverine zurück. Er täuschte sich, wenn er sie als mögliche Kundin einschätzte. Die Tasche an ihrem Kleid enthielt nicht eine Münze. Eilig erinnerte sie sich an ihren Auftrag und lief weiter.
Am Ende der Brücke kamen sie am königlichen Palast und der
Sainte Chapelle
vorbei. Von der Gebäudemasse förmlich erschlagen, wusste Séverine nicht, wohin sie zuerst sehen sollte. Das
Hôtel d’Alençon
hatte schon kolossale Ausmaße, aber gegen die Bauten des Königspalastes war es klein.
Sie fühlte sich winzig vor diesen Mauern und war so beeindruckt, dass sie die Kathedrale von
Notre-Dame,
die auf der anderen Seite, hinter den Häuserzeilen in den Himmel ragte, gar nicht wahrnahm.
Die
Petit Pont,
die Brücke des Heiligen Michel, leitete sie auf das linke Seine-Ufer. Aus Holz gebaut, viel zu schmal, war sie, diesem Umstand zum Trotz, die am meisten frequentierte Brücke der Stadt und wirkte wie ein Nadelöhr. Sie war die Einzige, die in das Viertel der Studenten hinüberführte. Noch nie hatte Séverine diesen Teil der Stadt betreten. Sie bogen in den Quai der Augustiner ein, der einen guten Blick zurück auf die Insel und den Palast erlaubte.
Der Fluss wälzte sich grau und mächtig bis an die Grundmauern vieler Häuser. Erst hier entdeckte Séverine die Vielzahl von Booten, Fährschiffen, Frachtkähnen und einfachen Barken, die ihn befuhren. Vom Ufer stank es nach Schlick und altem Fisch, und aus den engen Straßen nach Unrat, Honig und Bratfett.
Fasziniert drehte Séverine den Kopf von einer Seite zur anderen. Hier, im Bereich der Universität, wimmelte es von jungen Leuten. Eine Fülle von Schenken, Läden und Werkstätten in Holz- und Lehmhäusern säumte, im Schatten der Kirchen und Kollegien, die engen Gassen. Ihr Begleiter riss sie aus dem Staunen.
»Hier ist das
Hôtel de Nesle,
Demoiselle.«
Die Männer mit den Hellebarden ließen sie ohne Fragen das Torgewölbe passieren. Den Innenhof umgaben unüberwindbare Steinmauern. Grau, schwer und feucht von der unmittelbaren Nähe des Flusses, überragt vom quadratischen
Tour de Nesle,
fand Séverine diesen Wohnsitz auf Anhieb alles andere als einladend.
Von hier wurde des Nachts eine schwere Eisenkette quer über die Seine hinüber zum
Tour du Coin
gespannt, der zur Louvre-Festung gehörte. Hinter dieser Kette und den geschlossenen Stadttoren schlief Paris seinen sicheren Schlaf. Der König hatte seinem ältesten Sohn das
Hôtel de Nesle
zum Wohnsitz gegeben. Insgesamt bestand die Festungsanlage aus dem Palast und dem Turm, der früher als Gefängnis wie als Quartier der Wachen gedient hatte. Jeanne hatte Séverine alles genau geschildert. Es jetzt mit eigenen Augen zu sehen, war überwältigend.
Nachdem sie die Wachen passiert hatten, ging Séverine allein zum Turm. Die Kammerfrau, die sie dort in Empfang nahm, lehnte es strikt ab, ihre Herrin zu stören. Sie habe unmissverständlich Befehl gegeben, sie in keinem Falle zu behelligen.
»Die Gräfin von Poitiers hat mir einen Brief anvertraut, den ich ihrer Schwester persönlich übergeben muss. Sie geht davon aus, dass ich sie bei Eurer Herrin, der Königin von Navarra, finde.«
Séverine bediente sich der offiziellen Titel, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Louis der Zänker hatte den Titel des Königs von Navarra von seiner Mutter geerbt und legte großen Wert darauf, dass man ihm die Ehren eines regierenden Fürsten erwies. Auch Marguerite gefiel es, königliche Ehren einzufordern.
»Ihre Majestät erwartet, dass
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