Turm der Lügen
Pflichten gehört. Würdest du einen Botengang für mich erledigen, der absoluter Verschwiegenheit bedarf? Du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue. Dir sind die höfischen Intrigen noch fremd.«
»Wie könnt Ihr daran zweifeln, dass Ihr Euch auf mich und meine Verschwiegenheit verlassen könnt?« Séverine stand auf. »Sagt, welchen Auftrag Ihr habt.«
»Du sollst meine Base Marguerite aufsuchen.«
»Im
Hôtel de Nesle?
Ich werde es nicht finden.«
»Das ist nicht das Problem. Ein zuverlässiger Diener wird dich dorthin führen.«
»Und was erfordert diese unbedingte Heimlichkeit?«
Ob es ihr jemals gelingen würde, eine perfekte Edeldame aus ihr zu machen, schoss es Jeanne durch den Kopf. Séverine war unschlagbar in ihrem Temperament und ihrer Offenheit. Jede Verstellung blieb ihr fremd. Aber sie war auch treu ergeben und vertrauenswürdig, das hatte sie längst unter Beweis gestellt.
»Wie du weißt, teilt Marguerite den Palast mit ihrem Mann«, antwortete sie deswegen ungeschminkt. »Aber sie verbringt augenscheinlich immer öfter die Zeit in ihren Privatgemächern im
Tour de Nesle.
Sie entzieht sich ihren Pflichten. Nur ihre vertrautesten Dienerinnen haben in diesem Turm Zutritt. Und Blanche natürlich. Es gefällt ihr mehr und mehr, sich Marguerite anzuschließen und ihr in allem nachzueifern. Sie steckt mit ihr im
Tour de Nesle
fast die ganze Zeit zusammen. Beide machen ein solches Geheimnis aus allem, dass es mir nicht geheuer ist.«
»Was fürchtet Ihr?« Auch wenn Séverine die anmaßende Gemahlin des Thronfolgers nicht schätzte, welchen Argwohn hegte Jeanne gegen sie? Wenn sie Blanche schützen wollte, wovor?
»Ich fürchte, dass Marguerite meine arglose Schwester zu närrischen Abenteuern verleitet«, erwiderte Jeanne leise. »Blanche trifft in letzter Zeit die merkwürdigsten Entscheidungen und missachtet jede Vernunft. Sie gibt Unsummen für Modetorheiten aus. Ihre Verschwendungssucht verärgert Charles in zunehmendem Maße. Er hat ihr verboten, bei den Lombarden Kredit aufzunehmen. Aber ich ahne, dass sie mit Marguerites Hilfe Wege findet, das Verbot zu umgehen.«
»Ihr habt sie doch sicher zur Ordnung gerufen«, vermutete Séverine.
»Das wohl. Sie hat mir schwören müssen, ihre Eskapaden zu unterlassen. Allein, Blanche ist liebenswürdig, aber töricht. Die Worte gehen bei ihr zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus. Sie vergisst schnell, was sie versprochen hat. Geh für mich zum
Tour de Nesle,
Séverine. Finde heraus, ob sie Marguerite wieder Gesellschaft leistet. Der Vorwand für deinen Botengang ist ein Brief, der Blanche dringend zu mir bittet. Mir wäre es lieber, du würdest sie nicht antreffen, aber mein Gefühl sagt mir, dass du sie sehen wirst.«
Jeanne machte eine nachdenkliche Pause.
»Ich habe den Eindruck, dass ich der Sache auf den Grund gehen sollte, Séverine. Es beunruhigt mich, dass beide mich ausschließen. Wenn sie eine Dummheit aushecken, kann ich vielleicht rechtzeitig eingreifen und das Schlimmste verhindern.«
Es klang, als wolle sie noch etwas hinzufügen, aber dann beließ sie es bei dem Gesagten.
* * *
In Begleitung eines bewaffneten Leibwächters trat Séverine, Jeannes Brief in der Tasche, wenig später auf die
Rue de Poullies.
Bisher war sie stets in Begleitung des Hofstaates unterwegs gewesen, wenn man an hohen Feiertagen die Messe nicht in der Hauskapelle hörte, sondern zum Hochamt nach
Saint Germain l’Auxerrois
ging. Sie musste sich dem Schritt des schweigsamen Mannes anpassen, der ihr vorausschritt und dafür sorgte, dass ihr auch im größten Gewühl niemand zu nahe kam. Völlig berauscht von der unerwarteten Freiheit, unterdrückte sie nur mühsam den Impuls, einfach davonzurennen. Wie hatte sie es vermisst, sich frei bewegen zu können.
Die Nase in den Wind reckend, versuchte sie auf dem Weg zur Brücke der Wechsler, als Erstes die Vielzahl der Düfte und Aromen zu enträtseln die ihr entgegen wehten. Ihr Leibwächter hatte ihr knapp erklärt, dass sie erst einmal den Fluss überqueren und die
Île de la Cité
passieren mussten, ehe sie am linken Flussufer den Wohnsitz des Thronfolgers erreichen würden.
Der
Tour de Nesle
war Teil des mächtigen Mauerringes, den ein Vorfahr des regierenden Königs vor mehr als hundert Jahren zum Schutz der Stadt Paris hatte errichten lassen. Louis der Zänker hatte ihn seiner Gemahlin übereignet, weil sie ihm ständig mit der Bitte nach einem privaten Refugium in den Ohren gelegen hatte.
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