Turm der Lügen
weihte sein Herr den Königssohn in ihr Geheimnis ein? War das nicht zu viel des Vertrauens?
»Die Besatzung der Burg wurde zu Beginn des Sommers verstärkt«, sprach er schnell weiter. »Sie bewachen dort Jeanne von Burgund, die ihren Turm nicht verlassen darf und der keinerlei Verbindung zur Außenwelt erlaubt ist.«
Adrien tauschte einen fassungslosen Blick mit Philippe. Verstanden sie das richtig?
»Willst du damit sagen, dass die Gemahlin des Prinzen in Dourdan lebt?«
Adrien fasste den Jungen scharf ins Auge.
Julien nickte heftig.
»Das ist es, was ich Euch schon die ganze Zeit mitteilen wollte, Seigneur. Niemand darf darüber sprechen. Aber die Männer der Festung wissen natürlich, dass sie eine wichtige Person bewachen. Mein Bruder hat zufällig ihren Namen in den Befehlen entdeckt, die der Burghauptmann erhalten hat. Man hält ihn dort für einen schlichten Bogenschützen, der nicht lesen kann. Man hat gar nicht versucht, das Pergament vor seinen Blicken zu schützen.«
»Hat irgendjemand Jeanne von Burgund dort gesehen?«
»Nein. Sie lebt wie eine Unsichtbare im Turm. Sie haben eine stumme Bauerntochter gefunden, die ihr das Essen bringt und ihr als Magd dient. Nur der Burghauptmann sucht sie ansonsten einmal in der Woche auf, um sich von ihrem Wohlergehen zu überzeugen.«
»Und was hat es mit dem Boten und der Nachricht auf sich?«, kam Philippe trotz aller Erregung auf Juliens erste Worte zurück. Lediglich das Funkeln seiner Augen und zwei ungewohnte rote Flecken auf den Wangen verrieten seine Anspannung.
»Der Burghauptmann will die Verantwortung für das Wohl der Gefangenen nicht länger alleine tragen. Die Verbannte ist in der Hoffnung. Die Beschwerlichkeiten dieses Zustandes machen ihr zu schaffen, und der Hauptmann fürchtet um ihr Leben. Deswegen hat er einen Boten zum König geschickt. Er hat um genaue Anweisungen gebeten, wie weiter mit der Gefangenen verfahren werden soll. Bislang wartet er vergeblich auf Antwort.«
Julien haspelte die Worte so schnell herunter, dass ein Augenblick der Stille verging, ehe Adrien und Philippe reagierten. Dann jedoch stützte Philippe sich auf dem Tisch ab und schüttelte den Kopf, als wäre er unter einen Wasserguss geraten.
»Ein Kind. Sie erwartet ein Kind. Vielleicht sogar unseren Sohn …«
Den Erben des Thrones von Frankreich.
Ohne dass er es aussprach, standen die Worte im Raum. Kein Wunder, dass die Verantwortlichen in Dourdan in Panik ausbrachen. Ganz Frankreich wusste, dass die drei Söhne des Königs bisher ohne männliche Erben waren.
»Sie hat sich bei allen Geburten schwergetan«, stellte Philippe besorgt und erregt fest. »Sie ist ernsthaft in Gefahr. Weißt du, wann die Geburt des Kindes erwartet wird?«
»Um das Weihnachtsfest herum, sagt man. Es gibt nur Gerüchte.«
»Das ändert alles. Wir müssen auf der Stelle handeln.«
»Ihr dürft nichts überstürzen«, riet Adrien bedächtig. »Bleibt bei Eurem ursprünglichen Vorhaben. Begebt Euch morgen zu Eurem Vater. Die Aussicht auf dieses neue Enkelkind könnte sein Gemüt sehr wohl besänftigen. Bittet ihn darum, Jeanne sehen zu dürfen, um Euch von ihrem Gesundheitszustand überzeugen zu können. «
»Was geht in ihm vor? Hat er den Boten empfangen? Wie hat er reagiert? Wieso hat er mich nicht verständigt?«, fragte Philippe.
»Vielleicht wartet er auf eine passende Gelegenheit, Euch zu informieren. Er muss vorsichtig sein. Eure Brüder sind Jeanne nicht wohlgesonnen.«
Philippe rieb sich nachdenklich den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger. »Oder nimmt er an, dass ich von Jeannes Zustand und Aufenthaltsort bereits weiß?«
»Er kann nicht ahnen, dass wir Verbindungen nach Dourdan haben. Oder hast du einem befreundeten Knappen bei Hofe von deinem Besuch in der Festung erzählt, Julien?«
»Natürlich nicht. Damit würde ich ja meinen Bruder wissentlich in Gefahr bringen. Noch steht sein Name auf der Liste der gesuchten Templer.«
»Seht ihr?«
Man sah Philippe an, dass er mit sich rang, ehe er langsam nickte.
* * *
Bellas Weinen verstummte kraftlos. Auch die Amme schien erschöpft. Sie legte das Kind in seine Wiege zurück und schloss das Gewand über den Brüsten. Mit seltsam hölzernen Bewegungen und ohne den Säugling einmal aus den Augen zu lassen, tat sie die gewohnten Handgriffe. Séverine warf ihr einen prüfenden Blick zu. Ihr fiel auf, dass der Busen der Amme schlaff herunterhing, obwohl Bella kaum getrunken hatte.
Wortwechsel und Bilder aus
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