Turm der Lügen
Faucheville tauchten in Séverines Erinnerung auf. Die Küche des Lehens war eine Welt der Frauen gewesen. Sie sah Elvire geradezu vor sich, wie sie den sorgsam abgemessenen Mehlbrei für einen Säugling rührte, der nicht genügend Muttermilch bekam.
Plötzlich wusste sie, was geschehen war.
»Deine Milch ist versiegt.«
Die Amme fuhr erschrocken herum. In ihren Augen lagen Schuldbewusstsein und Entsetzen.
»Es ist nicht meine Schuld. Es ist einfach so gekommen«, verteidigte sie sich. »Seit mehr als zwei Jahren tue ich meine Pflicht. Habt Mitleid, ich bitte Euch.«
Mitleid? Das empfand Séverine vor allem für Bella, deren Schwäche sich plötzlich erklärte. Zu wenig Nahrung. Nicht das Kind war zu kraftlos, um zu saugen, die Amme hatte keine Milch mehr.
»Man wird mich davonjagen.« Nach Séverines Händen greifend, heischte die Nährmutter, die keine mehr war, um ihre Nachsicht. »Ich habe doch alles für die Kleine getan. Jede Medizin, die für sie von Wert sein sollte, habe ich klaglos geschluckt. Jede Speise habe ich gegessen und jeden Aufguss für sie getrunken. Und nun: Niemand braucht eine Amme, die keine Milch mehr geben kann. Man wird mich einfach davonjagen.«
»Vielleicht ist das der Grund«, murmelte Séverine, irritiert von dieser Klage, nachdenklich. Es war ihr schon länger seltsam vorgekommen, dass eine Amme diese Tränke schlucken musste, die gut sein sollten für ein Kleinkind. Im Bemühen um Bellas Gesundheit waren unaufhörlich neue Rezepte ausprobiert worden. Sie hatte jedes geprüft und dabei festgestellt, dass nur die wenigsten von ihnen wohlschmeckend und angenehm zu schlucken gewesen waren.
»Im Namen aller Heiligen, helft mir. Wovon soll ich leben, wenn Ihr mich nicht mehr braucht? Ich habe keine Familie. Mein Mann und die Kleinen sind im letzten Hungerwinter am Halsfieber gestorben.«
Die Amme sank weinend zu Séverines Füßen und umschlang ihre Knie.
»Ich flehe Euch an, lasst Barmherzigkeit walten. Es ist erst der zweite Tag, nachdem meine Milch völlig versiegt ist. Bisher kam immer noch ein wenig.«
Séverine schluckte die Vorwürfe, die ihr auf der Zunge lagen herunter. Sie erkannte, dass die Amme aus reiner Angst ihr Problem verschwiegen hatte, und sie übertrieb in ihrem Schrecken ja auch nicht. Eine Frau konnte ohne den Schutz eines Haushaltes und einer Familie nicht existieren. Weder in Paris noch an einem anderen Ort. Das hatte auch sie lernen müssen.
»Hör auf zu lamentieren. Geh in die Küche. Bereite einen dünnen Mehlbrei für Bella zu, süße ihn mit Honig und bring ihn unverzüglich. Eil dich, Bella leidet schon viel zu lange Hunger. Du hättest etwas sagen müssen.«
Über die Wiege gebeugt, prüfte Séverine angstvoll das kleine Mädchen. Apathisch lag es unter seinen Decken. Die geschlossenen Lider dünn und durchsichtig, die feinen Hände reglos.
Was sie über das Aufpäppeln kleiner Lebewesen wusste, stammte aus dem Pferdestall. Schwache Fohlen musste man warm halten, stützen und in kurzen Abständen mit gehaltvoller Nahrung versorgen. Mit Liebe und Zuwendung war es ihr meist gelungen, sie zum Fressen zu drängen und ihre ersten Schritte zu leiten. Was musste man hier tun?
Séverine fand keine Genugtuung darin, einen Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, der aus nackter Existenzangst etwas verschwieg. Sie wollte sich für die Amme einsetzen.
Als Jacquemine mit den älteren Kindern von Pater Clément kam, hatte Séverine Bella im Arm. Das Köpfchen an ihre Schulter geschmiegt, war die Kleine nach wenigen Happen Mehlbrei erschöpft eingeschlafen.
Die Amme saß am Feuer und säumte Windeln. Eifrig darum bemüht, ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stellen, war sie in hektische Tätigkeit verfallen.
Nachdem Séverine Jacquemine alles erklärt hatte, war auch sie einverstanden, die Amme im Haus zu behalten. Sie einte die Hoffnung, dass Bella die neue Nahrung vertrug und bald kräftiger würde.
Séverine fand einmal mehr keinen Schlaf in dieser Nacht. Sie hielt Bella in ihren Armen, um sie zu wärmen. Hin und hergerissen zwischen Selbstvorwürfen, Sorge und Ängsten, fragte sie sich, wie es Jeanne wohl erging?
Sei stark, Jeanne! Deine Kinder brauchen dich. Vielleicht gelingt es unserer mächtigen Mutter, dein Schicksal zum Guten zu wenden. Wenn sie das erreicht, will ich ihr sogar verzeihen, was sie mir angetan hat.
Wie jede Nacht schweiften ihre Gedanken auch zu Adrien. Die Sehnsucht nach seiner Nähe wuchs mit der Dauer ihrer Trennung ins
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