Turm-Fraeulein
Großes passieren mußte. Doch konnte ein so unwichtiges Wesen wie er eine solch große Tat vollbringen? Sollte er es überhaupt versuchen oder von vornherein aufgeben?
Dann sah er, wie Rapunzel ihn beobachtete. Sie lächelte und warf ihm einen Kuß zu. Sie glaubte an ihn.
Sie glaubte an ihn.
Vor sich selbst mochte er versagen, vor anderen auch, wie schon so oft zuvor. Aber vor ihr?
»Nun macht jeder von uns ein Zeichen auf das Blatt«, sagte er zur Vettel. »Wir malen ein lachendes Gesicht für die Netten, was heißen soll, daß wir gegen den anderen Gefangenen nicht aussagen werden, oder eine Fratze für die Bösen, was bedeutet, daß wir aussagen. Wir wissen beide, daß jeder von uns besser dran sein wird, wenn keiner von uns böse ist, solange der andere nett ist. Aber wir wissen nicht, wie sich der andere entscheiden wird. Das werden wir erst dann wissen, wenn wir uns gegenseitig die aufgemalten Gesichter zeigen.«
»Mach schon, Gimpel«, sagte die Vettel.
»Schon dabei.« Grundy malte ein großes lachendes Mondgesicht oben auf sein Blatt, und zwar so, daß die Vettel es nicht sehen konnte. Inzwischen zeichnete sie, dessen war er sich sicher, auf ihr Papier eine Fratze.
»Jetzt zeigen wir uns unsere Gesichter«, sagte Grundy. Er drehte sein Papier um und hielt es hoch, damit jeder es sehen konnte. Die Vettel tat es weniger bereitwillig.
Es war genau so, wie er es vorhergesehen hatte: Sie hatte ein finsteres Mondgesicht gezeichnet.
»Nun hat die Seevettel sich dazu entschlossen, auszusagen«, sagte er. »Ich nicht. Deshalb bekommt die Vettel fünf Punkte, und ich bekomme keinen.«
Im Publikum war ein ersticktes Seufzen zu hören.
Offensichtlich hatten alle gehofft, daß die Vettel verlieren würde.
Doch das Spiel hatte erst begonnen. Wenn seine Strategie wirklich richtig war…
»Nun gehen wir in die zweite Runde«, fuhr er fort. »Wieder wird jeder von uns sein Papier markieren.«
Sie taten es. Grundy malte eine Fratze.
Als sie ihre Zeichnungen vorzeigten, hatten beide Grimassen gemalt. »Diesmal haben wir beide das gleiche«, sagte Grundy. »Beide haben sich selbstsüchtig verhalten, deshalb bekommt auch jeder nur einen Punkt.«
»Aber ich bin immer noch im Vorsprung, Golem!« sagte die Vettel zufrieden.
»Sieht so aus«, meinte er. »Und nun zur dritten Runde.«
Wieder markierten sie ihre Blöcke und zeigten sie vor. Zweimal ein finsteres Mondgesicht. »Noch ein Punkt für jeden«, sagte Grundy.
»Sieben zu zwei für mich«, meinte die Hexe hämisch. »Du kommst nicht besonders weit damit, Dumpfbacke!«
»Vierte Runde«, sagte Grundy.
Erneut hatten beide Fratzen gezeichnet. »Acht zu drei«, gackerte die Vettel. »Deine dämliche Strategie führt dich immer tiefer ins Unheil, Golem!«
»Fünfte Runde«, verkündete Grundy grimmig. Wieder das gleiche – nun stand es 9:4.
»Sechste und letzte Runde«, sagte Grundy. Seinen Vorausberechnungen zufolge, war dies die entscheidende Phase. Er mußte sich darauf verlassen.
Sie malten und zeigten das Ergebnis vor – zwei finstere Mondgesichter. »Zehn zu fünf – ich siege!« gluckste die Vettel.
»Du siegst«, bestätigte Grundy grimmig. Das Publikum war totenstill.
Die Lippen des Dämons zuckten.
»Aber der Wettkampf ist noch nicht vorbei!« rief Grundy. »Dies war erst das erste Spiel.«
»Meine Spiele dauern unendlich«, grollte der Dämon.
»Genau«, bestätigte Grundy. »Ein Spiel ist nichts; worauf es ankommt, das ist das Gesamtergebnis.«
Nun schritt er zur anderen Vettel. »Ich werde nun das ganze mit der nächsten Gegnerin wiederholen«, erklärte er. »Jeder von uns wird ein Gesicht aufzeichnen.« Sie machten eine Pause und taten es. »Und es vorzeigen.«
Herauskam das gleiche Resultat wie zuvor: sein lachendes Mondgesicht gegen ihr finsteres. Grundy war fünf Punkte im Rückstand.
Sie absolvierten die verbliebenen fünf Runden mit ähnlichem Erfolg. Schließlich stand es 10:5 für die Hexe. »Mir gefällt deine Strategie richtig, Golem!« meckerte sie.
»Ich habe jetzt zwei Spiele gespielt«, verkündete Grundy. »Ich habe insgesamt zehn Punkte, während meine Gegner zwanzig haben.«
Das gesamte Publikum nickte düster. Alle waren zum gleichen Ergebnis gekommen. Nur Fracto schien erfreut zu sein, wenngleich er für die Vettel eigentlich auch nichts übrig hatte.
Doch Rapunzel lächelte den Golem noch immer zuversichtlich an. Sie war vielleicht die einzige, die noch an ihn glaubte. Er hoffte, daß sie im Recht war.
Nun
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