Twig im Dunkelwald
er.
Vene sah ihren Bruder an. »Wenn Twig schlafen will …«
»Nein«, unterbrach Twig sie schnell. »Ich sehe mich gern noch ein wenig um.«
Sie führten ihn zuerst zu den Pferchen mit den Hammelhörnern. Twig stieg auf das unterste Brett des Zauns und betrachtete die zotteligen Tiere mit ihren gezwirbelten Hörnern und traurigen Augen. Sie kauten träge. Twig lehnte sich über den Zaun und tätschelte einem der Tiere den Hals. Verärgert schüttelte es den gehörnten Kopf und schob die Hand weg. Twig zog sie erschrocken zurück.
»Sie sehen lammfromm aus«, sagte Vene, »aber sie sind unberechenbar. Man darf ihnen nie den Rücken zukehren. Die Hörner können ganz schön wehtun!«
»Und sie sind richtige Trampel«, fügte Knorpel hinzu. »Wir müssen deshalb dicke Stiefel tragen.«
»Es gibt bei uns ein Sprichwort«, sagte Vene. »›Das Lächeln eines Hammelhorns ist wie der Wind‹ – man weiß nie, wann es umschlägt.«
»Aber schmecken tun sie gut!«, rief Knorpel.
Im Räucherhaus sah Twig geschlachtete Tilder in langen Reihen an Haken hängen. Aus einem großen, mit Roteichenspänen beheizten Ofen quoll dunkelroter Rauch, der dem Tilderschinken seinen unverwechselbaren Geschmack gab. Dieser Rauch und nicht Blut war für die rote Haut der Schlächter verantwortlich.
Kein Teil der Tilder blieb ungenutzt. Die Knochen wurden getrocknet und wie Holz verwendet; das Fett diente zum Kochen, für Lampen und Kerzen und zum Schmieren der Flaschenzüge, mit denen die Hängematten hochgezogen wurden. Das grobe Fell wurde zu Seilen versponnen, aus dem Geweih wurden von Besteck bis zu Schrankgriffen alle möglichen Gegenstände geschnitzt. Der wertvollste Teil der Tiere war freilich das Leder.
»Hier werden die Häute zugerichtet«, sagte Knorpel.
Twig beobachtete, wie rotgesichtige Männer und Frauen die Häute mit großen runden Steinen bearbeiteten. »Das Geräusch habe ich bei mir zu Hause schon gehört«, sagte er. »Wenn der Wind aus Nordwesten kommt.«
»Dadurch wird das Leder weich und leichter formbar«, erklärte Vene.
»Und hier«, sagte Knorpel, der schon weitergegangen war, »sind die Bottiche, in denen es gegerbt wird.« Und stolz fügte er hinzu: »Wir verwenden nur feinste Bleiholzrinde.«
Twig schnüffelte an den dampfenden Bottichen. Es war der stechende Geruch, der ihm schon vor seiner Landung aufgefallen war.
»Deshalb ist unser Leder so beliebt«, sagte Vene.
»Das beste Leder des Dunkelwalds«, sagte Knorpel. »Sogar die Himmelspiraten verwenden es.«
Twig sah ihn an. »Ihr treibt mit den Himmelspiraten Handel?«, fragte er.
»Sie sind unsere besten Kunden«, erwiderte Knorpel. »Sie kommen nicht oft, aber wenn sie kommen, nehmen sie alles mit, was da ist.«
Twig nickte, aber in Gedanken war er woanders. Wieder stand er am Bug eines Piratenschiffes und befuhr die Lüfte, den Mond über sich und den Wind in den Haaren.
»Kommen sie bald wieder?«, fragte er schließlich.
»Die Himmelspiraten?« Knorpel schüttelte den Kopf. »Sie waren erst vor kurzem da. Jetzt dauert es wieder eine Weile, bis sie kommen.«
Twig seufzte. Er war auf einmal schrecklich müde. Vene merkte, wie seine Lider immer schwerer wurden, und nahm ihn am Arm.
»Komm mit«, sagte sie. »Du bist müde. Mama-Tatum zeigt dir, wo du schlafen kannst.«
Diesmal widersprach Twig nicht. Mit bleiernen Beinen folgte er Vene und Knorpel zu ihrer Hütte. Drinnen stand eine Frau und rührte etwas Rotes in einer Schüssel. Sie sah auf. »Twig!«, rief sie und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Schön, dich kennen zu lernen.« Sie eilte auf ihn zu und schloss ihn in ihre rundlichen Arme. Den Kopf drückte sie an Twigs Kinn.
»Ich danke dir, Blasser«, schluchzte sie. »Hab tausend Dank.« Sie trat zurück und trocknete sich mit dem Schürzenzipfel die Augen. »Sieh nicht hin«, schnupfte sie. »Ich bin nur eine dumme alte Frau …«
»Mama-Tatum«, sagte Vene, »Twig braucht einen Platz zum Schlafen.«
»Das sehe ich«, sagte sie. »Ich habe schon zusätzliches Bettzeug in die Hängematte gelegt. Vorher will ich aber noch zwei Sachen …« Sie durchwühlte die Schubladen einer Kommode und kommentierte laut die Dinge, die sie fand, aber nicht suchte. »Ah, da ist sie ja!«, rief sie endlich und reichte Twig eine große, aus Fell gefertigte Weste. »Probier sie an«, sagte sie. Twig zog die Weste über seine Lederjacke. Sie saß wie angegossen. »Die ist aber warm«, sagte er.
»Sie ist aus Hammelhornfell«,
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