Twig im Dunkelwald
Twig auf und betrachtete das auf dem Boden liegende Wesen. Es hatte einen flachen Kopf und eine Knollennase und über den Augen hingen schwere Lider. Es steckte in verdreckten Lumpen, wie es überhaupt von Kopf bis Fuß vor Dreck starrte. Misstrauisch musterte der Kobold Twig.
»Du bist von ziemlich weit oben auf uns heruntergefallen«, sagte er.
»Ich weiß, tut mir Leid«, sagte Twig. Er erschauerte. »Du kannst dir nicht vorstellen, was ich gerade erlebt habe. Ich …«
»Du hast uns wehgetan«, unterbrach ihn der Kobold. Seine näselnde Stimme machte Twig ganz benommen. »Bist du der Schleimschmeichler?«
»Der Schleimschmeichler?«, sagte Twig. »Nein …, natürlich nicht.«
»Er ist das schrecklichste Ungeheuer des ganzen Dunkelwalds«, sagte der Kobold und seine Ohren zuckten. »In irgendeinem finsteren Himmelswinkel liegt er auf der Lauer und dann lässt er sich auf sein ahnungsloses Opfer fallen.« Sein Augen verengten sich zu Schlitzen. »Aber vielleicht weißt du das ja selbst.«
»Ich bin nicht der Schleimschmeichler«, sagte Twig. Er steckte das Messer in die Scheide, streckte den Arm aus und half dem Kobold auf die Beine. Die knochige Hand des Kobolds fühlte sich heiß und verschwitzt an. »Aber ich sag dir was anderes«, fügte er hinzu. »Ich wäre gerade fast aufgefressen worden von einer Blutei …«
Aber der Kobold hörte ihm schon nicht mehr zu. »Er sagt, er sei nicht der Schleimschmeichler«, rief er in den Schatten unter den Bäumen.
Zwei weitere untersetzte, knochige Kobolde tauchten auf. Abgesehen von den verschiedenen Schmutzkrusten auf ihren Gesichtern, sahen sie alle drei genau gleich aus. Twig roch den säuerlichen Schweißgeruch, den sie verströmten, und rümpfte die Nase.
»In diesem Fall«, sagte der erste, »kehren wir am besten in die Kolonie zurück. Grobmutter wundert sich sicher schon, wo wir bleiben.«
Die anderen nickten, hoben Bündel aus Kräutern auf und schwangen sie sich auf die flachen Köpfe.
»Wartet!«, rief Twig. »Ihr könnt doch nicht so einfach gehen. Ihr müsst mir helfen. BLEIBT STEHEN!« Er rannte ihnen nach.
Der Wald war dicht und mit Gestrüpp zugewuchert. Durch die Ritzen zwischen den Blättern sah Twig, dass der Himmel inzwischen ein rosa überhauchtes Blau angenommen hatte. In die Finsternis unter den Bäumen fiel dagegen kaum Licht.
»Warum hört ihr mir nicht zu?«, rief er traurig.
»Warum sollten wir?«, kam die Antwort.
Twig zitterte, so allein fühlte er sich. »Ich bin müde und habe Hunger«, sagte er.
»Na und?«, meckerten die Kobolde.
Twig biss sich auf die Lippe. »Und ich habe mich verirrt!«, rief er wütend. »Kann ich nicht mit euch kommen?«
Der Kobold, der vor ihm ging, drehte sich um und zuckte die Schultern. »Uns ist ganz egal, was du tust.«
Twig seufzte. Eine freundlichere Einladung würde er nicht bekommen. Wenigstens hatten sie nicht gesagt, dass er nicht mitkommen durfte. Die Kobolde waren keine angenehmen Gefährten, aber im Dunkelwald durfte man, wie Twig inzwischen gelernt hatte, nicht allzu wählerisch sein. Er ging also einfach hinter ihnen her und zog sich dabei die letzten Dornen des Schlingwürgers aus dem Handgelenk.
»Wie heißt ihr eigentlich?«, rief er nach einer Weile.
»Wir sind Honigkobolde«, sagten sie alle drei gleichzeitig.
Wieder eine Weile später stießen drei weitere Kobolde zu ihnen, dann noch einmal drei – und dann noch einmal ein halbes Dutzend. Sie sahen alle genau gleich aus und unterschieden sich nur durch die Gegenstände, die sie auf ihren flachen Köpfen trugen. Einer trug einen geflochtenen Teller mit Beeren, ein anderer einen Korb mit knorrigen Wurzeln und wieder ein anderer einen großen, knollenförmigen, rotgelb gestreiften Kürbis.
Unversehens gelangten sie aus dem Wald auf eine sonnenbeschienene Lichtung. Vor ihnen erhob sich ein aus einem rosafarbenen, wachsartigen Material gefertigtes pompöses Bauwerk mit eingesunkenen Fenstern und schiefen Türmen. Es war so hoch wie die höchsten Bäume und erstreckte sich so weit nach hinten, dass Twig das Ende nicht sehen konnte.
Die Kobolde begannen aufgeregt durcheinander zu plappern. »Wir sind da«, riefen sie und eilten auf das Gebäude zu. »Wir sind zu Hause. Grobmutter wird mit uns zufrieden sein und uns zu essen geben.«
Twig war zwischen den Kobolden eingezwängt und bekam kaum noch Luft. Plötzlich hoben seine Füße vom Boden ab und er wurde gegen seinen Willen weitergetragen. Vor ihm ragte ein großes Portal
Weitere Kostenlose Bücher