Twig im Dunkelwald
für die Nacht zu suchen. Der Baum neben ihm hatte einen dicken Stamm und ein dichtes Dach aus großen, grünen Blättern, das ihn schützen würde, wenn das Wetter schlechter werden sollte. Und was noch wichtiger war, der Baum sah ungefährlich aus. Twig sammelte trockenes Laub und polsterte damit eine Kuhle zwischen den Wurzeln des Baums aus. Dann legte er sich auf die provisorische Matratze, rollte sich zusammen und schloss die Augen.
Die Nacht war voller Geräusche. Ununterbrochen winselte, jammerte und kreischte es. Twig legte den Arm um den Kopf um den zermürbenden Lärm nicht hören zu müssen. »Dir passiert schon nichts«, redete er sich gut zu. »Der Raupenvogel hat versprochen, dass er auf dich aufpasst.«
Und so schlief er allmählich ein. Er wusste nicht, dass der Raupenvogel sich im selben Augenblick weit entfernt mit einer Familie von Buschnymphen vergnügte.
KAPITEL 5
Die Bluteiche
Z uerst spürte er nur ein Kitzeln. Twig schlug im Schlaf danach. Benommen schmatzte er mit den Lippen und rollte auf die Seite. Er sah klein und verletzlich aus in seiner Mulde aus Laub unter dem mächtigen alten Baum.
Gekitzelt hatte ihn ein langes, dünnes, sich hin und her windendes Wesen. Twig begann wieder regelmäßig zu atmen und das Wesen schaukelte in der Luft dicht vor seinem Gesicht hin und her. Jedes Mal, wenn Twig ausatmete, krümmte und wand es sich in dem warmen Luftstrom. Plötzlich schoss es vor und betastete seinen Mund von allen Seiten.
Twig murmelte schläfrig etwas und fuhr sich mit der Hand über die Lippen. Geschickt wich das wurmartige Wesen den langen Fingern aus und huschte in einen der zwei kleinen dunklen Tunnel direkt über Twigs Mund hinein.
Twig fuhr hoch, schlagartig war er hellwach. Sein Herz pochte. In seinem linken Nasenloch war etwas! Er fasste sich an die Nase und drückte an ihr entlang, bis ihm Tränen in die Augen traten. Was immer in seiner Nase war, es kam kratzend die weiche Schleimhaut herunter. Dann war es draußen. Twig zuckte zusammen und kniff vor Schmerz die Augen fest zusammen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Was war das? Was konnte das bloß sein? Ihm wurde ganz flau vor Angst und Hunger.
Zuerst wollte er die Augen gar nicht öffnen. Dann machte er das eine Auge vorsichtig einen Spalt auf. Er sah etwas smaragdgrün aufblitzen, befürchtete schon das Schlimmste und begann hastig sich auf Händen und Füßen rückwärts zu bewegen. Doch dann verlor er das Gleichgewicht. Seine Beine knickten seitlich nach vorn weg und er landete unsanft auf den Ellbogen. Twig starrte in das trübe Dämmerlicht des anbrechenden Morgens. Das wurmartige grüne Geschöpf verharrte regungslos.
»Was bin ich für ein Dummkopf«, murmelte Twig. »Das ist doch bloß eine Raupe.«
Er legte den Kopf in den Nacken und sah zu der dunklen Baumkrone hinauf. Der Himmel über den schwarzen Blättern hatte sich von Braun nach Rot verfärbt. Es war warm, nur seine Beine waren hinten vom Tau des frühen Morgens feucht geworden. Es war Zeit aufzubrechen.
Twig stand auf und klopfte Zweige und Blätter aus seiner Weste. Auf einmal war die Luft von einem Pfeifen erfüllt wie von einer kreisenden Peitsche. Mit offenem Mund und gelähmt vor Angst sah Twig, wie die smaragdgrüne Raupe auf ihn zuschoss und sich in Windeseile einmal, zweimal, dreimal um seine ausgestreckten Handgelenke wickelte.
»Aua!«, schrie er. Scharfe Dornen stachen in seine Haut, und er verfluchte sich für seinen Leichtsinn.
Denn das wurmartige grüne Ding war gar keine Raupe. Es war eine Schlingpflanze, die smaragdgrüne Spitze einer langen, mit hässlichen Dornen bewehrten Ranke, die sich wie eine Schlange durch den dämmrigen Wald schlängelte und nach einem warmblütigen Opfer suchte. Twig war von dem schrecklichen Schlingwürger gefesselt worden.
»Lass mich los!«, schrie er und zerrte wie wahnsinnig an der zähen Ranke. »LASS MICH LOS!«
Doch je heftiger er zog, desto tiefer bohrten sich die wie Klauen geformten Dornen in seine Haut und in das weiche Fleisch an der Innenseite des Arms. Twig brüllte vor Schmerzen. Entsetzt beobachtete er, wie kleine, tiefrote Blutstropfen aus der Haut quollen und über die Hand liefen.
Ein stickiger Luftzug fuhr ihm durch die Haare und zauste das Fell seiner Hammelhornweste. Der Wind trug den Geruch seines Blutes nach oben unter das dämmrige Blätterdach. Von dort kam das leise Klappern tausender ungeduldig mahlender, rasierklingenscharfer Zähne. Dann drehte der Wind und
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