Twin Souls - Die Rebellin: Band 2 (German Edition)
Wir lernten Stück für Stück etwas über Christophs Vergangenheit. Cordelia und Katy imitierten die Kunden, die sich am absurdesten verhielten, und brachten uns damit zum Kichern, bis uns die Luft wegblieb, bis uns der Bauch wehtat und unsere Sicht verschwamm und unser Gelächter von den Wänden des Dachbodens widerhallte.
Wenn Addie und ich nicht auf dem Dachboden waren, lernten wir mehr über unsere Fähigkeit abzutauchen. Uns zeitweise von der Welt zu lösen.
An einem warmen Sonntagmorgen verschwand ich zum zweiten Mal in meinem Leben. Ich hatte angenommen, es wäre einfacher für Addie. Dass mein Verschwinden ihr doch sicherlich weniger Angst einflößen würde als das eigene Abtauchen. Aber ich spürte ihr Entsetzen, das so groß war, dass es mich beinah mit physischer Macht an Ort und Stelle festhielt. Daher wusste ich, dass dem nicht so war.
, flüsterte ich gleichermaßen Addie wie mir zu.
Sie nickte und wandte sich dem Spiegel zu, als wollte sie den Moment erhaschen, in dem ich verblasste. Als ließe er sich in unserem Spiegelbild einfangen.
Langsam zog ich mich in mich selbst zurück, faltete mich kleiner und kleiner in den Nebelschwaden unseres Geistes zusammen. Was hätte mein zehnjähriges Ich davon gehalten, wenn es gewusst hätte, was ich einmal tun würde? Ich hatte mich so eisern festgeklammert. Ich hatte einfach leben wollen. Eine Chance haben.
Darüber durfte ich jetzt nicht nachdenken. Ich durfte an gar nichts denken. Ich konzentrierte mich darauf, sämtliche Bande zu lösen, loszulassen, wie das Segel eines Bootes, das sich mit einem Ruck von seinem Mast befreit.
Addie hatte unsere Augen nicht geschlossen, also konnte ich es auch nicht. Aber das Mädchen im Spiegel war nicht ich. Ich murmelte dieses Mantra vor mich hin, während ich die Bande löste, die mich an unsere Glieder fesselten, unsere Finger, unsere Zehen.
Das Mädchen im Spiegel war nicht ich.
Blonde Haare. Braune Augen. Sommersprossen. Der Schwung des Schlüsselbeines, die Rundung eines Arms.
Das Mädchen im Spiegel war nicht ich.
Die Welt schrumpfte auf unsere Atmung zusammen, unseren Herzschlag. Dann verschwand selbst der.
Addie streckte sich instinktiv nach mir aus. Komm zurück!, meinte ich sie in dem Augenblick rufen zu hören, bevor es geschah.
Ihre Stimme.
Komm zurück!
Ich stürzte mich kopfüber ins Ungewisse und war fort.
Der dreijährige
Nathaniel
Fünf marmeladenbeschmierte Finger
Und ein marmeladenbeschmierter Mund
Ein Grinsen. Mein Name auf seinen Lippen
Eva, guck.
Die Wohnung, in der ich aufwuchs
Die Ritterburg neben dem Tisch
Das Flackern der Taschenlampe
in der Dunkelheit
Der Park, in dem ich auf Bäume kletterte
Und hinunterfiel
Der See
An dem wir zelten waren
Ehe Lyle und Nathaniel geboren waren
Als es nur Addie gab
Und mich
Und Dad
Und Mom
Leises Atmen im Zelt
Die Wärme, die ihre Körper verströmten
Das Schaben unserer Fingernägel
am Schlafsack
Eva.
Das Kratzen unserer Fingernägel an einer Tagesdecke.
Ich erwachte.
Vor dem Sehen, vor dem Hören, vor dem Riechen oder Sprechen oder Fühlen – war Addie.
Dann folgte der erste Gedanke, als die Welt um mich herum an Farbe gewann und wieder zu existieren begann.
Wir saßen immer noch auf dem Bett, die Knie an die Brust gezogen, die Fingernägel in das blau-weiße Muster der Tagesdecke gekrallt.
Addie starrte das Mädchen im Spiegel an, das zurückstarrte. Ich rang um Orientierung. Alles kam mir zu scharf vor, zu real und zugleich nicht real genug. Mich schmerzte die Erinnerung an – an was? Ich war mir nicht sicher. Es waren so viele Erinnerungen gewesen, Erinnerungen vermischt mit Träumen – die Wahrheit verzwirbelt mit Lügen und Hoffnungen und Fantasien.
Nathaniel. Ich hatte von Nathaniel geträumt. Einen Augenblick lang sah ich sein Gesicht vor mir, wie er und Lyle als Baby ausgehen hatten. Addie und ich waren bei seiner Geburt vier Jahre alt gewesen. Wir hatten uns auf die Zehenspitzen gestellt, um auf ihn hinunter in seine Wiege gucken zu können. Seine Haare waren so hell und fein gewesen, dass es aussah, als hätte er gar keine.
Addies Stimme klang fest, aber ich spürte die Willenskraft, die es sie kostete, damit sie nicht wankte.
Zwölf Minuten. Zwölf Minuten meines Lebens ausgelöscht. In gewisser Weise war es nicht anders, als nachts zu schlafen oder tagsüber ein Nickerchen zu machen. Aber ich fragte
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