Twitter: Eine wahre Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat (German Edition)
viele war er nichts weiter als eben das: eine klare, durchsichtige Glasscheibe, ein Unsichtbarer. Von Geburt an litt er an einer Sprechstörung. Als Kind hatte er jeweils nicht mehr als eine Silbe herausgebracht. Statt »Hallo« hatte er »Hal« gesagt, »Good-bye« hatte eher wie ein ersticktes »Goo« geklungen, und wenn Leute ihn nach seinem Namen gefragt hatten, hatte er nicht »Jack Dorsey«, sondern »Ja« geantwortet. Durch eine Therapie hatte er zwar seine Sprechprobleme mittlerweile überwunden, aber sie hatten seine Kommunikationsfähigkeit nachhaltig geprägt.
Jacks Sprechprobleme hatten jedoch auch ihre Vorzüge. In St. Louis, wo er aufgewachsen war, war er gern mit dem Linienbus durch die Stadt gefahren, hatte sich das weitläufige Arbeiterviertel, in dem er wohnte, angesehen und bei jeder Kurve und Kreuzung seine Fantasie schweifen lassen. Seine Behinderung hatte ihm auch geholfen, einen Freund zu finden: einen Computer, der ins Haus kam, als er acht Jahre alt war, ein IBM PC Junior. Auf Anhieb verliebte er sich in den Monochrom-Monitor und lernte, sich in Programmiersprache mit ihm zu unterhalten.
An Wochenenden holte seine Mutter Marcia ihn vom Computer weg und schleifte ihn und seine Brüder durch die Straßen von St. Louis auf der Suche nach der ultimativen Handtasche, »der einzig wahren Handtasche«, wie sie es nannte. Während Marcias Shoppingtour saß Jack still in Läden für Damenoberbekleidung. Dort begann er selbst, eine Faszination für Taschen zu entwickeln, allerdings nicht für Handtaschen, sondern für Umhängetaschen.
Jahre später hatte er in San Francisco täglich eine Umhängetasche bei sich: eine helle Filson-Tasche, die in Kontrast zu seiner dunklen Kleidung stand, seinen schwarzen T-Shirts, Sweatshirt-Jacken mit Reißverschluss, Jeans und klobigen Turnschuhen. Wegen seiner stark abfallenden Schultern hingen Jacken an seinem hageren, schlaksigen Körper herum. Manchmal spielte er mit dem silbernen Ring an seinem Nasenflügel.
Er liebte diesen Nasenring. Als er zwei Jahre zuvor als Freelancer ein Software-Programm geschrieben hatte, mit dem Tickets für Besichtigungen des Gefängnisses Alcatraz verkauft werden sollten, hatte sein Arbeitgeber ihm untersagt, ihn bei der Arbeit tragen. Aber statt den Ring herauszunehmen, hatte er ihn unter einem großen beigefarbenen Pflaster versteckt. So hatte er zwar im Büro Schwierigkeiten zu atmen und lief oft mit offenem Mund umher, aber ihm waren die Atemprobleme lieber, als den Nasenring auf Verlangen seines Chefs herauszunehmen.
Als er nun im Caffe Centro saß, hatte er einen Arbeitgeber, der nicht viel besser war. Jack schrieb Low-Level-Programme für einen unbedeutenden Ticketshop, der ihm wie ein Gefängnis vorkam. Wann immer er konnte, flüchtete er mit Laptop oder Skizzenblock aus dem Büro und schlenderte hinüber in das South-Park-Viertel von San Francisco. Dort schob er den Kopfhörer auf sein zotteliges dunkles Haar und suchte Zuflucht in Cafés und Sandwichshops. Allerdings war dieser Teil der Stadt nicht irgendein beliebiges Viertel, sondern das Mekka der Computerfreaks und Nerds.
Jeden Tag verbrachte er dort so viel Zeit wie möglich. An einem trüben Nachmittag beleuchtete sein Laptop-Monitor sein Gesicht wie eine Taschenlampe einen dunklen Keller. Manchmal machte er Skizzen und schaute aus dem Fenster, während Fahrradkuriere und Gründer von Start-up-Firmen vorbeihasteten. Andere Male saß er in dem nur 170 Meter langen Park, einer ovalen Grünfläche, die aussah, als gehöre sie vor einen Londoner Königspalast und nicht in ein Viertel von San Francisco voller Lagerhäuser. Mitten im Park stand eine wackelige alte braune Schaukel.
South Park hatte in den ausgehenden 1990er Jahren viele Start-ups beherbergt, die mit dem Platzen der Dot.com-Blase einen raschen Niedergang erlebt hatten und mittlerweise eingegangen waren. Firmen wie Pets.com hatten gemeinsam Hunderte Millionen Dollar für lächerlich kostspielige Partys, idiotisch hohe Gehälter und teure Fernsehwerbung verschleudert und in South Park ihren frühzeitigen Untergang erlebt.
Das Viertel war keineswegs schon immer das Epizentrum der Hochtechnologie gewesen. Bevor die Start-ups Einzug gehalten hatten, gab es hier Bordelle, Drogendealer, Kellerbars und zwielichtige Hotels. Nach dem Platzen der Blase war das Viertel beinah zu seinen Rotlichtwurzeln zurückgekehrt, aber Mitte 2005 erlebten South Park und das Web ein Comeback. An der Nordseite des Parks mieteten
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