Tybee Island
er kurzerhand, aus dem Schuppen eine zweite Liege zu holen. Schließlich hatte er ihr nicht erlaubt, sich hier einzuquartieren, weil er auf einen Hausgeist aus war.
Ohne jede Erklärung stellte er die Liege neben der ihren ab, ließ sich darin nieder und genoss mit geschlossenen Lidern die Sonne. Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte Jen sein Treiben beobachtet und sich dann weiter gesonnt. So verbrachten sie den restlichen Tag.
In den kommenden Tagen änderte sich nicht viel. Gelegentlich sprachen sie über ihre Familien, Freunde und Bekannte. Darüber, was dieser und jener so trieb, aber die meiste Zeit genossen sie schweigend die Gesellschaft des anderen. Sie lagen am Strand, aßen gemeinsam, lachten zu zweit vor dem Fernseher, und fuhren sogar zum Einkaufen, nur um sich dort eine Stunde über die richtige Wahl des Frühstücksmüslis zu streiten.
Ja, sie schaffte es, ihn abzulenken. Nur selten dachte er an den Grund seines Urlaubs, an seine Verletzung und deren Folgen. Jen wirkte ebenfalls entspannt. Der traurige Schatten, der sie am ersten Tag überfallen hatte, tauchte nicht noch einmal auf. Sie schien das sorgenfreie Leben auf Tybee Island zu genießen, und keiner von ihnen sprach je das Thema ihrer Abreise an. Obwohl sich Craig Jens körperlicher Vorzüge durchaus bewusst war, und auch ihr Blick ab und an über seinen Körper schweifte, war ihr Zusammensein rein platonisch. Er schlief in seinem Zimmer, sie im Gästezimmer.
Darüber war er froh, denn es gab diese Momente morgens um halb vier, in denen er es vorzog, mit sich allein zu sein. Wie so oft schaufelte er sich einen zweiten Löffel Vanilleeis in eine Schüssel, während die digitale Uhr am Backrohr still weiterzählte und 03:27 anzeigte. Sogar als SEAL hätte er um diese Zeit lieber ge schlafen. Als ein Schatten im Flur auftauchte, fluchte er leise.
Jen schlurfte in die Küche und rieb sich über die Augen. »Es ist halb vier in der Früh. Was zum Henker machst du hier?« Mit einem Plumps ließ sie sich auf einem der Barhocker nieder und lugte über die Theke auf den Teller mit Vanilleeis.
»Eis essen«, antwortete er und sah sie von unten her an. »Willst du auch?«
Sie musterte ihn. »Klar.«
Lächelnd überreichte er ihr die Schüssel. Er schlenderte die wenigen Schritte auf die andere Küchenseite und holte aus dem Schrank eine zweite für sich. Als er sich umdrehte, bemerkte er Jens Blick auf seinem verletzten Knie. Normalerweise verbarg er seine Narben unter langen Hosen, sodass er sich in den vergangenen Tagen Jen nie in Shorts präsentiert hatte. Jetzt war eine Ausnahme, denn jetzt sollte sie eigentlich nicht hier sein.
Sie blickte in sein Gesicht und erwiderte für einen langen Moment den Augenkontakt, bevor sie sich wortlos ihrem Eis widmete.
Nachdem er zwei Löffel von dem Gefrorenen in seine Schüssel geladen hatte, lehnte er sich gegen die Küchenfront und jeder für sich aß die kalte Süßigkeit. Er liebte das Schweigen zwischen ihnen. Es war so friedlich, angenehm und natürlich. Als würde nichts eine Erklärung brauchen. Doch so idyllisch sich die Harmonie auch präsentierte, es war trotzdem spürbar, wie zerbrechlich sie blieb. Er wusste, der Friede war nur geborgt. Es würde der Tag kommen, an dem sie in die Realität zurückkehren mussten. Aber nicht heute. Nicht jetzt.
Craig kratzte den letzten Rest aus seiner Schüssel und sah sie an. »Ich wollte dich nicht wecken, tut mir leid.«
»Kein Problem.« Jen zuckte mit den Schultern und leckte über den Löffel. »Aber da du jede Nacht um die Uhrzeit aufstehst, war ich neugierig und wollte mal gucken, was du so treibst.«
Er sah auf und verfing sich in ihrem Blick. Darin lag eine nicht ausgesprochene Frage, von der er hoffte, dass Jen sie nie stellen würde.
Sie wandte sich als Erste ab, rutschte von dem Barhocker und brachte ihre Schüssel zum Geschirrspüler. »Und was machen wir jetzt?«
Er lächelte. Deshalb mochte er sie so. Weil sie längst begriffen hatte, dass sein Urlaub auf Tybee Island kein gewöhnlicher Urlaub war. Weil sie vermutlich längst erraten hatte, was hinter all dem steckte. Weil sie aber nie ein Wort darüber verlor.
Sie strahlte ihn an. »Hast du Lust, schwimmen zu gehen?«
»Schwimmen? Es ist vier Uhr morgens.«
»Die beste Zeit.« Ohne auf seine Erwiderung zu warten, schlenderte sie durch das Wohnzimmer und öffnete die Terrassentür. Sie drehte sich um und nickte mit dem Kopf hinaus. »Los, komm!« Lachend verschwand sie in der
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