Tybee Island
geweckt. »Tom, hallo. Ich bin’s, Craig. Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab.«
»Nicht schlimm. Was gibt’s?«
Craig strich sich über den Kopf, seufzte und setzte sich auf sein Bett. »Ich wollte dich nur zurückrufen, weil du gestern nach Jen gefragt hast.«
»Weißt du, wo sie steckt?«
Die freudige Hoffnung in Toms Stimme versetzte ihm einen Stich und verstärkte sein schlechtes Gewissen. »Jen telefoniert gerade mit euren Eltern und erzählt ihnen, dass sie bei mir auf Tybee Island ist.«
»Gott sei Dank.« Tom atmete hörbar auf. »Wo hast du sie gefunden?«
Nun kam der schwierige Part. Er schloss die Augen und holte noch einmal tief Luft. »Auf einer Party. Vor etwa zehn Tagen.«
Kurz blieb es ruhig. »Vor zehn Tagen?« Toms Argwohn war unüberhörbar. »Dann war sie die ganze Zeit bei dir?«
Craig zögerte einen Moment, antwortete dann aber mit einem kräftigen »Ja«. Dass Jen unmissverständlich darum gebeten hatte, zu bleiben, sparte er aus. Letztlich änderte es nichts an der Situation. Die Stille, die zwischen ihnen eintrat, war, was er am meisten gefürchtet hatte.
»Hast du mit ihr geschlafen?«
Auch mit dieser Frage hatte er gerechnet. »Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Ach ja?« Der Sarkasmus in Toms Stimme schmerzte Craig. »Wie ist es dann?«
Wenn er das nur wüsste. Craig erhob sich und schritt langsam durch den Raum. »Ich mag sie.«
Tom lachte auf. »Na, da bin ich aber froh. Und ich hatte schon Angst, du würdest mit ihr ins Bett steigen, obwohl sie dir zuwider ist.«
Craig blieb stehen. Im Grunde hatte er keine Lust, mit Tom über seine Beziehung zu Jen zu reden, aber er wusste auch, dass er es ihrer Freundschaft schuldete. »Wir tun uns im Moment einfach gegenseitig gut.«
»Gut? Du vergnügst dich in deinem Urlaub mit der Nächstbesten, die dir auf einer Party über den Weg läuft, und vergisst sie, sobald du von der Insel wieder runter bist. Aber Jen …«
»Tom …«
»Nein, Craig. Das wirst du dir gefälligst anhören.« Toms Stimme wurde immer lauter. »Jen macht eine schwierige Zeit durch. Ihr Verlobter hat sie vor sechs Monaten wegen einer anderen verlassen und seither ist sie ziemlich durch den Wind. Und du bist echt der Letzte, von dem ich gedacht hätte, dass er diese Situation ausnützen würde.«
Schweigend stand Craig im Zimmer.
»Verdammt, sie ist meine Schwester!«
Er wünschte sich so sehr, dass er es Tom hätte erklären können. Aber er konnte es nicht. Er konnte es sich ja selbst nicht erklären. Craig wusste nur, dass es sich nicht falsch anfühlte.
»Sie konnte dich früher noch nicht einmal leiden.«
Er blinzelte irritiert. Gut, Jen war nie eine von denen gewesen, die ihm hechelnd hinterhergelaufen waren, aber dass sie ihn nicht hatte leiden können, war ihm neu. »Wie kommst du darauf?«
»Ach, vergiss es. Wie lange soll das noch zwischen euch laufen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und wie ernst nimmt meine Schwester diese Sache?«
»Ich weiß es nicht.«
»Weißt du überhaupt irgendetwas?«
Im nächsten Moment war ein Tuten in der Leitung zu hören, woraufhin Craig langsam das Handy von seinem Ohr nahm und auch seinerseits das Telefonat beendete. Tom hatte recht. Was wusste er überhaupt? Nur, dass er Jen nicht mehr einfach gehen lassen konnte.
Jen schlenderte durch die Küche zum Wohnbereich, während sie vorsichtig einen Schluck Wasser aus einem Glas trank. Draußen fielen gerade die letzten Sonnenstrahlen auf die zwei Liegestühle am Strand und erinnerten sie daran, wie sehr sie die Zeit mit Craig genoss. Eigentlich hatte sie sich in diesem Haus nur für ein paar Tage verstecken wollen. Ein wenig zur Ruhe kommen, um die Kraft zu haben, den restlichen Sommer zu überstehen. Um nicht gleich auf die nächste Party zu rennen, und sich dort zu betrinken. Nun war irgendwie alles anders. Die Vorstellung, dass Craig womöglich bald wieder abreiste, machte ihr Angst. Sie fühlte sich bei ihm so geborgen, sicher, als könnte ihr niemand je wieder etwas anhaben.
»Hast du deine Mutter erreicht?«
Sie drehte sich um und Craig schlenderte mit ernster Miene auf sie zu. Sie wusste, dass es ihm zusetzte, dass sie Toms kleine Schwester war. Aber schließlich waren sie erwachsen, und nichts, was geschehen war, würde sie je bereuen. »Ja, hab ich«, antwortete sie. »Sie war zwar nicht gerade begeistert, aber dann auch wieder erleichtert, dass es zumindest du bist, bei dem ich mich verstecke.«
Craig nickte und trat noch näher.
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