Typisch Bär! - Geschichten zum Vorlesen
in der Hütte um. Alles sah sehr ordentlich aus. Abgesehen von den Sprichwortzetteln, die sich auf dem Tisch türmten. Vielleicht sollte er die Sprichwörter noch sortieren? Aber wie? Nach Alphabet? Nach Länge? Nach Sinn oder Unsinn? Er konnte auch zwei Stapel machen: auf einen Stapel die Sprichwörter, die er verstand. Auf den anderen Stapel diejenigen, die ihm nur Rätsel aufgaben. Der zweite Stapel wäre bestimmt viel größer als der erste.
Irgendwann aber merkte er, dass er sich überhaupt nicht konzentrieren konnte, und er ließ das mit dem Sortieren sein.
Er wartete. Wartete. Ging hin und her. Fand hier noch ein Stäubchen, dort noch einen kleinen Fleck, den er wegwischen musste.
Dann fiel ihm etwas ein: Er hatte noch gar nichts zu essen vorbereitet! Also kochte er einen Puddingund deckte den Tisch mit allem, was er in seiner kleinen Speisekammer fand. Sogar Servietten hatte er und Kerzen. Richtig gemütlich eben.
Doch noch kam sie nicht.
Er schaltete das Radio nicht ein, denn er wollte hören, wenn sie kam. So verging der Tag. Die Dämmerung mit ihren ganz eigenen Geräuschen. Die Abendstunden kamen und verrannen.
Vielleicht hatte sich diese innere Stimme geirrt? Vielleicht kam die Bärin heute gar nicht? Auch morgen nicht und nicht in einer Woche? Was wusste schon so eine innere Stimme? Außerdem: Heute ist es so weit. Was war dieses ES? Was war so weit? Vielleicht war ja etwas ganz anderes gemeint? Vielleicht war heute ein Komet am Himmel erschienen? Vielleicht hatten heute irgendwo zwei Eichhörnchen geheiratet? Vielleicht hatte heute die Apfelblüte begonnen? Dieser Satz konnte doch praktisch alles bedeuten!
Der Bär wusste ehrlich nicht mehr, was er denken sollte. Andererseits, weshalb zweifelte er? Hatte sie ihm nicht versprochen, eines Tages wiederzukommen? Doch, das hatte sie.
Es musste fast Mitternacht sein. An jedem anderen Abend wäre er längst im Bett gewesen. Heute saß er noch immer an seinem Schreibtisch. Aber ab und zu fielen ihm doch die Augen zu.
Dann klopfte es.
Der Bär schreckte hoch und war sofort hellwach. Das war sie bestimmt!
Langsam stand er auf und öffnete die Tür.
Sie stand draußen und lächelte.
Der Bär sagte nichts. Er sah sie nur an.
Kein Komet. Keine Apfelblüte. Kein Eichhörnchen im Hochzeitskleid.
Die Bärin.
»Ich habe dir eine Nachricht geschickt, heute Morgen«, sagte sie. »Eine Gedankennachricht.«
Der Bär war ein bisschen heiser und musste sich erst räuspern, bevor er antworten konnte: »Ist angekommen. Danke.«
Er war so verlegen, dass er sogar vergaß, sie hereinzubitten.
Sie sagte: »Ich habe eben ein neues Sternbild entdeckt. Es heißt Der ausgelassen tanzende Bär . Den Namen habe ich mir selbst ausgedacht.«
»Ist es ein Brillenbär?«
»Ich weiß nicht. Wir sollten uns das Sternbild anschauen.«
Da fiel dem Bären etwas ein und er deutete auf den Tisch: »Willst du denn nichts essen?«
»Doch, später.«
Sie nahm ihn bei der Hand und machte sich mit ihm aufden Weg. Sie gingen durch hochgewachsenes Gras, zwischen wilden Blumen.
Der Himmel war klar und einladend.
Und wenn in dieser Nacht zufällig jemand in dieser Gegend unterwegs war, dann konnte er drei Bären sehen, die ausgelassen im Mondlicht tanzten ...
Nachtrag
Manchmal springen auch Tiere über ihren eigenen Schatten. Der Amselhahn erlernte doch noch die Kunst des Winterschlafs, und zwar in einem dreiwöchigen Kurs an der VHS (Vogelhochschule).
Eine Bärenhochschule gibt es leider nicht. Aber der Bär konnte am Ende trotzdem fliegen, ganz plötzlich, ohne dass es ihm jemand beigebracht hatte.
Manchmal steigt er mit der Bärin auf den Hügel in der Nähe seiner Hütte. Dann schauen sie weit ins Land hinein und schließlich breiten sie die Arme aus und fliegen davon, schweben über die Wiesen, über den Wunderwald und über das Haus des Löwen hinweg: seltsame Flugobjekte, als wären sie nicht von dieser Welt.
Hubert Schirneck
wurde in Gera geboren und lebt heute als Schriftsteller in Weimar. Er schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene sowie Geschichten für den Rundfunk. Seine Arbeiten wurden bereits in vierzehn Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. www.schirneck.de
Sonja Bougaeva
wurde 1975 in Sankt Petersburg geboren und lebt heute in Hamburg. Sie hat Kunst und Illustration studiert und eine Ausbildung zur Trickfilmanimatorin absolviert. Für ihre Arbeiten wurde sie u.a. mit einer Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis
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